Kandel, Eric R.
Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes
Vorw. v. Gerhard Roth
Übersetzer: Schröder, Jürgen; Bischoff, Michael
Suhrkamp 2006. 340 S. m. Abb.
ISBN-13: 9783518584514
ISBN-10: 3518584510
EUR 28,00
Rezension v. Gottfried Kleinschmidt
Der international bekannte Nobelpreisträger E. R. Kandel (Verleihung des Preises im Jahr 2000) ist ein prominenter Vertreter des „radikalen neurobiologischen Reduktionismus“. Im Zentrum steht die Einsicht, dass alle Leistungen des Gehirns und des menschlichen Geistes auf Leistungen von Neuronen-Netzwerken beruhen. Wichtig als experimentelle Grundlage sind die Analysen der Habituation und Sensitivierung durch planvolle Untersuchungen der Meeresschnecke „Aplysia californica“. Aus neurobiologischer Sicht ist das immer noch kontrovers diskutierte „Leib-Seele-Problem“ im Grundsatz gelöst. Dies würde auch S. Freud heute anerkennen. Geistig-psychische Zustände unterliegen eindeutig physikalisch-physiologischen Bedingungen. Das Geistig-Psychische ist in die Naturgesetze eingebettet.
G. Roth stellt im Vorwort fest: „Nervenzellen und ihre Membranen denken, fühlen, hoffen und wollen nicht – dies kann nur der Gesamtorganismus; aber diese mental-psychischen Zustände beruhen allesamt auf der Aktivität und Veränderung zellulär-molekularer Strukturen und Prozesse“. Die radikal neurobiologische Leitthese führt zu kontroversen Diskussionen unter Theologen, Philosophen, Psychologen und Anthropologen. Inzwischen gibt es allerdings informative und lesenswerte Lehrbücher zur „Biologischen Psychologie“ die ebenfalls von neurobiologischen Grundpositionen ausgehen.
In den sechs wichtigen Beiträgen des Sammelbandes beschäftigt sich E.R. Kandel mit der Psychotherapie und der einzelnen Synapse, mit dem neuen theoretischen Rahmen der Psychiatrie sowie mit der Molekularbiologie und der Zukunft der Psychoanalyse. Dieser Beitrag erhält im „Freud-Jahr 2006“ eine besondere Bedeutung. Die zentralen Themen der weiteren drei Beiträge sind die Metapsychologie und die Molekularbiologie sowie die Molekularbiologie der Gedächtnisspeicherung und abschließend „Gene, Gehirn und das Selbstverständnis des Menschen“. Jeder Beitrag ist von einem namhaften Experten aus der Sicht des aktuellen Forschungsstandes kommentiert worden. Diese Kommentare bestätigen, dass E.R. Kandel nicht nur ein kreativer und innovativer Experimentator, sondern ein humanistisch denkender Arzt (Psychiater) und ein in die Zukunft denkender Visionär ist.
Die Grundlage des neuen theoretischen Rahmens für die Psychiatrie besteht darin, dass alle geistigen Prozesse biologisch sind und dass jede Veränderung dieser Prozesse notwendig organisch ist. Wir befinden uns heute mitten in einer wissenschaftlichen Revolution, die das Verständnis der Prozesse des Lebens verwandelt. Die Zukunft der Psychoanalyse liegt im Umfeld einer empirischen Psychologie, die von bildgebenden Verfahren der Untersuchung des Gehirns, neuroanatomischen Methoden und der Humangenetik unterstützt wird. Wir beginnen immer besser und präziser zu verstehen, auf welche Weise neuronale Aktivität, die in Zellensembles oder in der Feldspannung von Millionen Zellen gemessen wird, Information so miteinander verbindet, dass daraus Gedächtnis, Aufmerksamkeit oder sogar Bewusstsein entstehen.
Ein wichtiges Ziel der Untersuchungen E.R. Kandels ist es, Fragen zur Psychologie des Lernens in die empirische Sprache der Biologie zu übersetzen. Hierbei geht es um mögliche Kombinationen zwischen der mentalistischen Psychologie der Gedächtnisspeicherung mit der Biologie der neuronalen Signale. Die Biologie des Lernens wird in naher Zukunft viele Forscher beschäftigen. E.R. Kandel stellt in diesem Zusammenhang fest: „Denn die Biologie des Geistes hat die wissenschaftliche Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts in ihren Bann geschlagen, so wie die Biologie des Gens die Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts faszinierte“. Die biologische Erforschung des Geistes nimmt die zentrale Position in Biologie und Medizin ein. Kandel und seine Gruppe an der Columbia University hat die physiologischen, biochemischen und molekularen Einzelheiten des Lernens analysiert. Dabei geht es um Veränderungen an den Synapsen, um sekundäre Botensysteme, um die Proteinsynthese und die Genexpression. Kandel fragt nach der „biologischen Basis unserer Einzigartigkeit“ und stellt zusammenfassend fest: „In ihrer höchsten Form spiegelt sich unsere Einzigartigkeit in der Einzigartigkeit unseres Gehirns wider, einer Einzigartigkeit, die aus der Einzigartigkeit unseres Gehirns hervorgeht“.
Eine der größten wissenschaftlichen Herausforderungen ist die Beschäftigung mit dem großen Rätsel der Biologie des menschlichen Geistes. Die Biologie des Geistes ist eines der zentralen Probleme der Wissenschaft im 21. Jahrhundert. Die Rätselhaftigkeit besteht in der Komplexität des menschlichen Gehirns. Diese Komplexität zeigt sich in der enormen Anzahl und Funktionsvielfalt seiner Bausteine (Nervenzellen) und in deren Interaktionen. Es fällt uns immer noch schwer zu akzeptieren, dass jeder mentale Prozess, von unseren öffentlichen Handlungen bis zu unseren intimsten Regungen, eine Widerspiegelung biologischer Prozesse im Gehirn ist. Unter den tiefen Problemen, mit denen es die Erforschung des Geistes zu tun hat, rangiert die Biologie des Bewusstseins an oberster Stelle.
Ein wichtiger Punkt ist, dass der „biologische Zugang zur Psychiatrie“ ein tieferes Verständnis des menschlichen Verhaltens ermöglicht. Entscheidend sind die Aktivierungsmuster des Gehirns, die mit unbewussten und bewussten Wahrnehmungszuständen zusammenhängen.
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