„Diese Botschaft verdient ein sorgfältiges Studium“ (Avery Dulles) … „Die ohne jeden Zweifel wichtigste und klarste päpstliche Aussage über die Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft in jüngerer Zeit“ (Ernan McMullin). Zitiert nach: Schöpfung und Evolution, hg. v. Schmitz-Moormann, Düsseldorf 1992, 76.
Schreiben Johannes Pauls II.
an George V. Coyne SJ, Direktor des Vatikanischen astronomischen Observatoriums
[M 1] »Gnade sei Dir und Frieden von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus« (Eph 1,2).
Da Sie im Begriffe sind, die in der vom 21. bis 26. September 1987 in Castel Gandolfo durchgeführten Studienwoche vorgetragenen Texte zu veröffentlichen, nehme ich die Gelegenheit wahr, Ihnen und all denen, die zu dieser bedeutenden Initiative beigetragen haben, meinen Dank auszudrücken. Ich bin gewiß, daß die Veröffentlichung dieser Beiträge gewährleistet, daß die Früchte dieses Unternehmens noch reicher werden.
Der dreihundertste Jahrestag der Veröffentlichung von Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica bot dem Heiligen Stuhl einen geeigneten Anlaß, eine Studienwoche zu ermöglichen, die die vielfältigen Beziehungen zwischen Theologie, Philosophie und den Naturwissenschaften untersuchte. Der auf diese Weise geehrte Mann, Sir Isaac Newton, hatte selbst einen großen Teil seines Lebens denselben Fragen gewidmet, und seine Gedanken darüber lassen sich in allen seinen größeren Werken, seinen nicht abgeschlossenen Manuskripten und seiner umfassenden Korrespondenz finden. Die Veröffentlichung Ihrer eigenen Beiträge zu dieser Studienwoche, die dieselben Fragen aufgreifen, welche dieses große Genie erforschte, bietet mir Gelegenheit, Ihnen für die Bemühungen zu danken, die Sie einem Thema von solch überragender Bedeutung gewidmet haben. Das Thema Ihrer Konferenz, »Unser Wissen über Gott und Natur: Physik, Philosophie und Theologie«, ist sicher ein für unsere Zeit entscheidendes Thema. Wegen seiner Bedeutung möchte ich einige wichtige Punkte ansprechen, die die Wechselbeziehungen zwischen Naturwissenschaft, Philosophie [M2] und Theologie der Kirche und ganz allgemein der menschlichen Gesellschaft vor Augen stellen.
Die Kirche und die Welt der Akademie treten miteinander in Bezug als zwei sehr verschiedene, aber wichtige große Institutionen innerhalb der menschlichen Zivilisation und der Weltkultur. Vor Gott tragen wir ungeheure Verantwortung für die menschliche Existenzweise, weil wir historisch einen großen Einfluß auf die Entwicklung von Ideen und Werten und auf den Verlauf des menschlichen Tuns hatten und weiterhin haben. Unserer beider Geschichte erstreckt sich über Tausende von Jahren: die gelehrte, akademische Gemeinschaft, die auf die Ursprünge der Kultur, der Stadt und der Bibliothek und der Schule zurückgeht, und die Kirche mit ihren historischen Wurzeln im alten Israel. Wir sind im Laufe dieser Jahrhunderte oft miteinander in Kontakt gekommen, manchmal einander stützend, zu anderen Zeiten in solch unnötigen Konflikten, wie sie unserer beider Geschichte verdunkelt haben. Auf Ihrer Konferenz kommen wir wieder zusammen, und es war in hohem Maße angemessen, daß wir, da wir uns dem Ende dieses Jahrtausends nähern, eine Reihe gemeinsamer Reflexionen über die Welt initiierten, wie wir sie anfassen und wie sie unser Tun formt und herausfordert.
So viel von unserer Welt scheint in Scherben, in zusammenhanglosen Stücken zu sein. Ein so großer Teil des menschlichen Lebens geht dahin in Isolierung oder in Feindschaft. Der Graben zwischen reichen und armen Nationen wird immer breiter; der Kontrast zwischen den nördlichen und den südlichen Regionen unseres Planeten wird immer ausgeprägter und unerträglicher. Der Antagonismus zwischen Rassen und Religionen spaltet Länder in Kriegslager; historische Empfindlichkeiten zeigen keine Anzeichen einer Abschwächung. Sogar in der akademischen Gemeinschaft besteht weiterhin die Trennung von Wahrheit und Werten, und die Isolation ihrer verschiedenen -wissenschaftlichen, humanistischen und religiösen – Kulturen macht einen gemeinsamen Diskurs schwierig, wenn nicht zu Zeiten unmöglich.
[M3] Zugleich aber sehen wir in weiten Bereichen der menschlichen Gemeinschaft eine wachsende kritische Offenheit gegenüber Vertretern anderer Kultur und Herkunft, anderer Kompetenzen und Anschauungen. Immer häufiger suchen Menschen intellektuelle Kohärenz und Kooperation, und sie entdecken Werte und Erfahrungen, die sie gerade innerhalb ihrer Mannigfaltigkeit gemeinsam haben. Diese Offenheit, dieser dynamische Austausch, ist ein bemerkenswertes Kennzeichen der wissenschaftlichen Gemeinschaft selbst, und es beruht auf gemeinsamen Interessen, gemeinsamen Zielen und einem gemeinsamen Handeln, womit einhergeht das tiefe Wissen darum, daß die Einsichten und Erfolge des einen oft für die Fortschritte des anderen wichtig sind. In ähnlicher, aber subtilerer Weise kam dies zwischen verschiedenartigeren Gruppen vor und geschieht weiterhin so – unter den Gemeinschaften, die die Kirche bilden, und sogar zwischen der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Kirche selbst. Dieser Trend ist wesentlich eine Bewegung in Richtung jener Art von Einheit, die sich der Homogenisierung widersetzt und sich der Mannigfaltigkeit erfreut. Eine solche Gemeinschaft wird gekennzeichnet durch eine gemeinsame Sinnhaftigkeit und ein von allen geteiltes Verständnis, das ein Gefühl wechselseitigen Involviertseins hervorbringt. Zwei Gruppen, die anfänglich möglicherweise nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, können in der Entdeckung eines gemeinsamen Ziels miteinander in Gemeinschaft treten, und dies kann wiederum zu breiteren Feldern miteinander geteilten Verstehens und Bemühens führen.
Wie nie zuvor in der Geschichte ist die Kirche in die Bewegung für die Einheit aller Christen eingetreten, sie fördert gemeinsame Studien, Gebete und Diskussionen, damit »alle eins seien« (Joh 17,20). Sie hat versucht, sich von jeder Spur des Antisemitismus zu befreien, und ihre Ursprünge im Judentum und das, was sie ihm religiös verdankt, zu betonen. In der Reflexion und im Gebet hat sie ihre Hand ausgestreckt zu den großen Weltreligionen und dabei die uns allen gemeinsamen Werte und unsere universelle und bis zum äußersten reichende Abhängigkeit von Gott anerkannt.
[M4] Innerhalb der Kirche selbst gibt es ein wachsendes Gefühl der »Welt-Kirche«, die beim letzten Ökumenischen Konzil offensichtlich wurde, bei dem von allen Kontinenten stammende Bischöfe – nicht mehr überwiegend europäischer oder westlicher Herkunft – zum ersten Mal ihre gemeinsame Verantwortung für die ganze Kirche übernahmen. Die Dokumente dieses Konzils und des Lehramtes spiegeln sowohl in ihrem Inhalt als auch in dem Versuch, alle Menschen guten Willens anzusprechen, dieses neue Weltbewußtsein wider. Im Laufe dieses Jahrhunderts sind wir Zeugen eines dynamischen Strebens zur Versöhnung und Einheit gewesen, das in der Kirche vielfältige Gestalt angenommen hat.
Eine solche Entwicklung sollte auch nicht überraschen. Die christliche Gemeinschaft, die sich so emphatisch in diese Richtung bewegt, verwirklicht mit größerer Intensität Christi Wirken in ihr: »Denn Gott war in Christus und versöhnte so die Welt mit sich« (2 Kor 5,19). Wir selbst sind aufgerufen, diese Versöhnung der Menschen, eines mit dem anderen und aller mit Gott, weiterzuführen. Genau unsere Natur als Kirche hat diese Verpflichtung zur Einheit zur Folge.
Im Blick auf die Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft zeigt sich eine eindeutige, wenn auch noch zerbrechliche und vorläufige Bewegung in Richtung eines neuen und nuancierteren Austauschs. Wir haben begonnen, miteinander auf einer vertiefteren Ebene zu sprechen als zuvor und mit größerer Offenheit für die Sehweisen des anderen. Wir haben angefangen, gemeinsam nach einem besseren Verständnis für die Disziplin des jeweils anderen mit ihren Kompetenzen und ihren Begrenztheiten und insbesondere nach Bereichen eines gemeinsamen Bodens zu suchen. Dabei haben wir wichtige Fragen aufgeworfen, die uns beide angehen, und die für die breitere menschliche Gemeinschaft lebenswichtig sind, der wir beide dienen. Es ist entscheidend, daß dieses gemeinsame Streben auf der Grundlage [M5] kritischer Offenheit und kritischen Austauschs nicht nur weitergeführt wird, sondern in seiner Qualität und in dem von ihm erfaßten Feld wächst und vertieft wird.
Denn der Einfluß, den jede auf den Gang der Zivilisation und der Welt selbst hat und weiterhin haben wird, kann nicht überschätzt werden, und sie haben einander so viel zu bieten. Selbstverständlich gibt es die Vision der Einheit aller Dinge und aller Völker in Christus, die uns in unserem Alltagsleben – in unseren Kämpfen, unseren Leiden, unseren Freuden und unserem Forschen – begleitet und die im Brennpunkt des Lebens und Zeugnisses der Kirche steht. Diese Vision bringt in die größere Gemeinschaft eine tiefe Achtung für alles Seiende, die Hoffnung und die Zusicherung, daß die zerbrechliche Gutheit und Schönheit und das gebrechliche Leben, die wir im Universum sehen, sich in Richtung der Ganzheit und der Erfüllung bewegen, die von den Kräften der Auflösung und des Todes nicht überwältigt werden. Diese Vision liefert auch eine starke Stütze für die Werte, die sowohl aus unserem Wissen als auch aus der Einschätzung der Schöpfung und unser selbst als Gewordenen, Erkennenden und Verantwortlichen der Schöpfung erwachsen.
Auch die wissenschaftlichen Disziplinen beschenken uns, wie offensichtlich ist, mit einem Verstehen und einer Einschätzung unseres Universums als eines Ganzen von einer unglaublich reichen Mannigfaltigkeit verwickelt ineinander verflochtener Prozesse und Strukturen, die seine beseelten und unbeseelten Komponenten konstituieren. Dieses Wissen hat uns ein tieferes Verständnis unser selbst und unserer demütigen, doch einzigartigen Rolle innerhalb der Schöpfung gegeben. Durch die Technologie hat sie uns auch die Fähigkeit verliehen, auf Wegen zu reisen, in Kommunikation zu treten, zu bauen, zu heilen und zu forschen, die unseren Vorfahren beinahe unvorstellbar gewesen wäre. Solches Wissen und solche Macht, wie wir sie entdeckt haben, können in hohem Maße dazu benutzt werden, unser Leben zu steigern und zu verbessern, sie können aber auch ausgenutzt werden, um menschliches Leben und die Umwelt sogar in globalem Maßstab zu mindern und zu zerstören.
[M6] Die von uns in der Schöpfung auf der Grundlage unseres Glaubens an Jesus Christus als den Herrn des Universums wahrgenommene Einheit und die korrelative Einheit, nach der wir in unseren menschlichen Gemeinschaften streben, wird, so scheint es, von dem widergespiegelt und sogar verstärkt, was die zeitgenössische Wissenschaft uns offenbart. Im Blick auf die unglaubliche Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung entdecken wir eine zugrundeliegende Bewegung in Richtung der Entdeckung von Gesetzes- und Prozeßebenen, welche die geschaffene Wirklichkeit zur Einheit bringen und die zugleich die gewaltige Mannigfaltigkeit von Strukturen und Organismen hervorgebracht haben, die die physikalischen und biologischen und sogar die psychologischen und soziologischen Welten konstituieren.
Die zeitgenössische Physik liefert dazu ein treffendes Beispiel. Die Suche nach der Vereinigung aller vier physikalischen Grundkräfte – Schwerkraft, Elektromagnetismus, die starken und die schwachen nuklearen Wechselwirkungen – ist in wachsendem Maße erfolgreich. Diese Vereinigung mag sehr wohl Entdeckungen aus dem subatomaren und dem kosmologischen Bereich verbinden und Licht sowohl auf den Ursprung des Universums als auch letztendlich auf den Ursprung der Gesetze und Konstanten werfen, die seine Evolution steuern. Die Physiker verfügen über ein detailliertes, wenn auch unvollständiges und vorläufiges Wissen über Elementarpartikel und die Grundkräfte, durch die sie bei niedrigen und mittleren Energien aufeinander einwirken. Sie haben heute eine annehmbare Theorie, die die elektromagnetischen und schwachen nuklearen Kräfte vereinen, neben weit weniger adäquaten, wenn auch verheißungsvollen großen vereinheitlichten Feldtheorien, die versuchen, auch die starken nuklearen Interaktionen einzubeziehen. Weiter auf derselben Linie dieser Entwicklung gibt es bereits verschiedene detaillierte Vorschläge für den Endzustand, die Supervereinheitlichung, das heißt die Vereinheitlichung aller vier Grundkräfte einschließlich der Schwerkraft. Ist es für uns nicht wichtig zu sehen, daß es in der Welt solch detaillierter Spezialisierung wie der heutigen Physik dieses Streben zur Konvergenz gibt?
[M7] Auch in den Wissenschaften vom Leben scheint sich etwas Ähnliches zu ereignen. Die Molekularbiologen haben die Strukturen des lebenden Stoffes, seine Funktionen und seine Replikationspro-zesse erforscht. Sie haben entdeckt, daß dieselben zugrundeliegenden Konstituentien zum Aufbau aller lebenden Organismen auf der Erde dienen und sowohl die Gene als auch die Proteine konstituieren, die diese Gene kodieren. Dies ist eine andere eindrucksvolle Bekundung der Einheit der Natur.
Wenn wir zur Offenheit zwischen der Kirche und den wissenschaftlichen Gemeinschaften ermuntern, haben wir keine disziplinäre Einheit zwischen der Theologie und der Naturwissenschaft im Blick, wie sie innerhalb eines wissenschaftlichen Feldes oder innerhalb der eigentlichen Theologie gegeben ist. In dem Maße, wie der Dialog und das gemeinsame Suchen voranschreiten, wird sich ein Wachsen in Richtung wechselseitigen Verstehens und schrittweisen Aufdeckens gemeinsamer Belange ergeben, die die Grundlage für weitere Forschung und Diskussion liefern werden. Welche Form dies genau annehmen wird, muß der Zukunft überlassen werden. Wichtig ist, wie wir bereits betont haben, daß der Dialog weitergeht und an Tiefe und Horizont zunimmt. Bei diesem Prozeß müssen wir jegliche regressive Tendenz in Richtung eines einseitigen Reduktionismus, der Angst und der selbstauferlegten Isolierung überwinden. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß jede Disziplin fortfahre, die andere reicher zu machen, zu nähren und herauszufordern, so daß sie in vollerem Maße das ist, was sie sein kann, und beiträgt zu unserer Schau dessen, wer wir sind und wer wir werden.
Wir mögen uns fragen, ob wir zu diesem entscheidenden Bemühen bereit sind. Ist die Gemeinschaft der Weltreligionen, einschließlich der Kirche, bereit, in einen tiefergehenden Dialog mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft einzutreten, in einen Dialog, in dem die Integrität sowohl der Religion als auch der Wissenschaft gestützt und das Vorankommen beider gefördert wird? Ist die wissenschaftliche Gemeinschaft heute bereit, sich selbst dem Dialog mit dem Christentum [M8] und wirklich allen großen Weltreligionen zu öffnen, um mit uns allen daran zu arbeiten, eine Kultur aufzubauen, die menschlicher und damit göttlicher ist? Wagen wir es, das Risiko der Ehrlichkeit und des Mutes auf uns zu nehmen, das diese Aufgabe verlangt? Wir müssen uns fragen, ob sowohl die Wissenschaft als auch die Religion zur Integration der menschlichen Kultur oder zu ihrer Fragmentierung beitragen sollen. Es gibt nur eine Wahl, und wir alle müssen uns ihr stellen.
Denn eine einfache Neutralität ist nicht länger annehmbar. Wenn die Völker wachsen und reifen sollen, können sie nicht weiterhin in getrennten Abteilen wohnen und völlig verschiedene Interessen verfolgen, nach denen sie ihre Welt bewerten und beurteilen. Eine gespaltene Gemeinschaft fördert eine fragmentierte Sicht der Welt; eine Gemeinschaft wechselseitigen Austausches ermutigt ihre Mitglieder, ihre voreingenommenen Teilperspektiven auszuweiten und eine neue einheitliche Schau herauszubilden.
Doch die Einheit, nach der wir suchen, ist, wie wir bereits betont haben, keine Identität. Die Kirche schlägt nicht vor, daß die Wissenschaft zur Religion oder die Religion zur Wissenschaft werde. Im Gegenteil, die Einheit setzt immer die Mannigfaltigkeit und die Integrität ihrer Elemente voraus. Jedes dieser Glieder sollte nicht weniger es selbst, sondern in einem dynamischen Austausch mehr es selbst werden; denn eine Einheit, in der eines der Elemente auf das andere reduziert wird, ist zerstörerisch, in ihren Versprechen der Harmonie trügerisch und für die Integrität ihrer Komponenten ruinös. Wir sind aufgefordert, eins zu werden. Wir sind nicht aufgefordert, der jeweils andere zu werden.
Um es noch genauer zu sagen: Sowohl die Religion als auch die Wissenschaft müssen ihre Autonomie und ihre Besonderheit bewahren. Die Religion gründet nicht in der Wissenschaft, und die Wissenschaft ist keine Weiterführung der Religion.
Jede sollte ihre eigenen Prinzipien, ihre eigenen Vorgehensmuster, ihre verschiedenen Interpretationswege [M9] und ihre eigenen Schlußfolgerungen haben. Das Christentum besitzt die Quelle seiner Rechtfertigung in sich selbst und erwartet nicht von der Wissenschaft, daß sie seiner grundlegenden Verteidigung diene. Die Wissenschaft muß von ihrem eigenen Wert Zeugnis geben. Während jeder den anderen als eigene Dimension einer gemeinsamen menschlichen Kultur unterstützen kann und sollte, darf doch keiner annehmen, er bilde die notwendige Prämisse für den anderen. Es bietet sich uns heute die beispiellose Möglichkeit einer interaktiven Beziehung, in der jede Disziplin ihre Integrität wahrt und doch radikal für die Entdeckungen und Einsichten der anderen offen ist.
Doch weshalb sind kritische Offenheit und wechselseitiger Austausch für uns beide von Wert? Einheit beinhaltet das Streben des menschlichen Denkens nach Verstehen und das Verlangen des menschlichen Geistes nach Liebe. Wenn Menschen versuchen, die sie umgebende Vielfalt zu verstehen, wenn sie versuchen, Erfahrung zu begreifen, so leisten sie dies, indem sie viele Faktoren in eine gemeinsame Schau einbringen. Verstehen wird erreicht, wenn viele Daten durch eine gemeinsame Struktur zur Einheit gebracht werden. Das Eine erhellt die Vielen; es macht als ein Ganzes Sinn. Einfache Vielheit ist Chaos; eine Einsicht, ein einziges Modell, kann diesem Chaos Struktur geben und es einsichtig machen. Wir bewegen uns in Richtung der Einheit, wie wir uns in Richtung von Sinn in unserem Leben bewegen. Einheit ist auch die Konsequenz von Liebe. Wenn Liebe echt ist, bewegt sie sich nicht in Richtung der Assimilation des anderen, sondern in Richtung der Vereinigung mit dem anderen. Menschliche Gemeinschaft beginnt im Verlangen, wenn die Vereinigung noch nicht vollendet ist, und sie wird in Freude vollendet, wenn das, was auseinander war, jetzt vereint ist.
In den frühesten Dokumenten der Kirche wurde die Verwirklichung der Gemeinschaft in dem radikalen Sinne des Wortes als die Verheißung und das Ziel des Evangeliums gesehen: »Was wir gehört und gesehen haben, verkünden wir auch [M10] euch, damit ihr mit uns Gemeinschaft habt; Gemeinschaft haben wir mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und wir schreiben dies, damit unsere Freude vollständig sei« (1 Joh 1,3). Später wandte sich die Kirche den Wissenschaften und den Künsten zu, gründete große Universitäten und baute Monumente von überragender Schönheit, so daß alle Dinge in Christus als ihrem Haupt zusammengefaßt würden (cf. Eph 1,10).
Wozu ermutigt dann die Kirche in dieser relationalen Einheit zwischen Wissenschaft und Religion? Zuerst und zuvörderst sollten sie dahin gelangen, einander zu verstehen. Allzu lange haben sie sich gegenseitig vom Leibe gehalten. Die Theologie ist als ein Bemühen des Glaubens, zum Verstehen zu gelangen, definiert worden, als fides quaerens intellectum. Als solches muß sie heute in vitalem Austausch mit der Wissenschaft stehen, wie sie immer mit der Philosophie und anderen Formen der Gelehrsamkeit im Austausch gestanden ist. Die Theologie muß in diesem oder jenem Maße auf die Befunde der Wissenschaft zurückgreifen in ihrem vorrangigen Bemühen um die menschliche Person, die Bereiche der Freiheit, die Möglichkeiten christlicher Gemeinschaft, die Natur des Glaubens und die Einsichtigkeit von Natur und Geschichte. Die Vitalität und Bedeutsamkeit der Theologie für die Menschheit wird in grundlegender Weise von ihrer Fähigkeit widergespiegelt, diese Befunde einzubringen.
Dies ist nun ein Punkt von heikler Wichtigkeit, und er muß sorgfältig qualifiziert werden. Die Theologie ist nicht aufgefordert, jede neue jede neue Philosophie oder wissenschaftliche Theorie in gleicher Weise zu akzeptieren. In dem Maße, wie diese Befunde jedoch Teil der intellektuellen Kultur der zeit werden, müssen Theologen sie verstehen und ihren Wert zur Herausarbeitung von Möglichkeiten des christlichen Glaubens testen, die bisher nicht erkannt wurden. Der Hylemorphismus der aristotelischen Naturphilosophie wurde zum Beispiel von den mittelalterlichen Theologen übernommen, um ihnen zu helfen, die Natur [M 11] der Sakramente und der hypostatischen Union zu erforschen. Dies bedeutete nicht, daß die Kirche ein Urteil über die Wahrheit oder die Falschheit der aristotelischen Einsichten fällte, da das nicht ihre Sache ist. Es bedeutete, daß dies eine der reichen Einsichten war, welche die griechische Kultur anbot, die verstanden und ernst genommen und auf ihren Erhellungswert für verschiedene Bereiche der Theologie. getestet werden mußte. Die Theologen dürfen sich durchaus fragen ob sie im Hinblick auf die zeitgenössische Wissenschaft, die Philosophie und die anderen Bereiche menschlichen Wissens diesen außerordentlich schwierigen Prozeß so gut geleistet haben wie diese mittelalterlichen Meister.
Wenn die Kosmologien der alten nahöstlichen Welt gereinigt und in die ersten Kapitel der Genesis assimiliert werden konnten, sollte dann die zeitgenössische Kosmologie unseren Überlegungen über die Schöpfung nichts zu bieten haben? Wirft eine evolutive Perspektive irgendwelches Licht auf die theologische Anthropologie, auf die Bedeutung der menschlichen Person als imago Dei, auf das Problem der Christologie – und sogar auf die Entwicklung der Lehre selbst? Welches sind, wenn es sie gibt, die eschatologischen Implikationen der zeitgenössischen Kosmologie, insbesondere im Lichte der gewaltigen Zukunft unseres Universums? Kann die theologische Methode sich Einsichten der wissenschaftlichen Methode und der Wissenschaftstheorie fruchtbar zu eigen machen?
Fragen dieser Art können in Fülle aufgeworfen werden. Sie weiterzuverfolgen würde jene Art von intensivem Dialog mit der zeitgenössischen Wissenschaft erfordern, der aufs Ganze gesehen bei jenen fehlt, die sich mit theologischer Forschung und Lehre befassen. Es würde erfordern, daß zumindest einige Theologen sich in den Wissenschaften genügend auskennen, um authentischen und kreativen Gebrauch von den Ressourcen zu machen, welche die bestbegründeten Theorien ihnen anbieten mögen. Eine derartige Fachkenntnis würde sie davon abhalten, zu apologetischen [M 12] Zwecken unkritischen und übereilten Gebrauch von solchen neueren Theorien wie dem „Urknall“ in der Kosmologie zu machen. Sie würde sie aber auch davon abhalten, an der potentieIIen Relevanz solcher Theorien für die Vertiefung des Verständnisses in traditionellen Bereichen theologischer Forschung Abstriche zu machen.
In diesem Prozeß wechselseitigen Lernens können die Mitglieder der Kirche, die selbst entweder aktive Wissenschaftler oder in einigen besonderen Fällen sowohl Wissenschaftler als auch Theologen sind, eine Schlüsselposition einnehmen. Sie können auch einen dringend benötigten Pastoraldienst anderen leisten, die darum kämpfen, die Welten der Wissenschaft und der Religion in ihrem eigenen intellektuellen und spirituellen Leben zu integrieren, wie auch jenen, die schwierige moralische Entscheidungen in Fragen der Entwicklung und Anwendung von Technik zu treffen haben. Solche brückenschlagenden Pastoraldienste müssen gefördert und ermutigt werden. Die Kirche hat schon seit langem die Bedeutung solcher Verbindungen anerkannt, indem sie die Päpstliche Akademie der Wissenschaften gründete, in der einige der führenden Wissenschaftler der Welt sich regelmäßig treffen, um ihre Forschungen zu diskutieren und der breiteren Gemeinschaft zu zeigen, in welche Richtungen die Entdeckungen weisen. Doch ist sehr viel mehr notwendig.
Die Sache ist dringlich. Die zeitgenössische Wissenschaft fordert die Theologie viel tiefer heraus als im dreizehnten Jahrhundert die Einführung des Aristotelismus nach Westeuropa. Doch diese Entwicklungen bieten der Theologie eine potentiell wichtige Ressource. Dürfen wir nicht hoffen, daß ebenso wie die Aristotelische Philosophie durch den Dienst eines so großen Gelehrten wie des hl. Thomas von Aquin schließlich dahin gelangte, einige der tiefsten Aussagen der theologischen Lehre zu gestalten, auch die Wissenschaften von heute gemeinsam mit allen Formen menschlichen Wissens jene Teile des theologischen Unternehmens kräftigen und informieren, die sich mit der Beziehung von Natur, Menschheit und Gott befassen?
[M 13] Kann auch die Wissenschaft aus diesem Austausch Nutzen ziehen? Es möchte scheinen, daß es geht. Denn die Wissenschaft entwickelt sich am besten, wenn ihre Begriffe und Folgerungen in die breitere menschliche Kultur und deren Bemühen um letzten Sinn und Wert integriert sind. Die Wissenschaftler können sich deshalb nicht völlig abseits von jenen Fragen halten, mit denen sich Philosophen und Theologen befassen. Indem sie diesen Fragen etwas von der Energie und Sorgfalt widmen, die sie ihrer Forschung in der Wissenschaft angedeihen lassen, können sie anderen helfen, die menschlichen Potentiale ihrer Entdeckungen besser zu verstehen. Sie können auch dahin gelangen, für sich selbst zu erkennen, daß diese Entdeckungen kein echter Ersatz für das Wissen um das wahrhaft Letzte sein können. Die Wissenschaft kann die Religion von Irrtum und Aberglauben reinigen; die Religion kann die Wissenschaft von Götzendienst und falschen Absolutsetzungen reinigen. Jede kann die andere in eine weitere Welt ziehen, eine Welt, in der beide gedeihen können.
Die Wahrheit in der Sache ist, daß die Kirche und die wissenschaftliche Gemeinschaft unausweichlich interagieren; sie haben nicht die Option der Isolation. Die Christen werden unvermeidlich die vorherrschenden Ideen über die Welt sich zu eigen machen, und diese Ideen werden heute von der Wissenschaft geprägt. Die einzige Frage ist, ob sie dies kritisch oder unreflektiert, mit Tiefgang und Nuance oder mit der Oberflächlichkeit tun werden, die das Evangelium erniedrigt und uns angesichts der Geschichte schamrot werden läßt. Die Wissenschaftler werden wie alle Menschen ihre Entscheidungen treffen auf der Grundlage dessen, was letztendlich ihrem Leben und ihrer Arbeit Sinn und Wert gibt. Sie werden sie gut oder schlecht machen, mit der reflektierten Tiefe, die zu erreichen ihnen die theologische Weisheit helfen kann, oder mit einer unüberlegten Verabsolutierung ihrer Ergebnisse über ihre vernünftigen und angemessenen Grenzen hinaus.
Sowohl die Kirche als auch die wissenschaftliche Gemeinschaft stehen so vor solchen unausweichlichen Alternativen. Wir werden unsere Entscheidungen sehr viel besser treffen, wenn wir [M 14] in einer kooperativen Interaktion leben, in die wir immer mehr gerufen sind. Nur eine dynamische Beziehung zwischen Theologie und Wissenschaft kann jene Grenzen aufdecken, welche die Integrität beider Disziplinen tragen, so daß die Theologie keine Pseudowissenschaft bekennt und die Wissenschaft nicht zu einer unbewußten Theologie wird. Unser Wissen umeinander kann uns dahin führen, authentischer wir selbst zu sein. Niemand kann die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts lesen und dabei nicht erkennen, daß wir beide in einer Krise stehen. Der Gebrauch der Wissenschaft hat sich bei mehr als einer Gelegenheit als massiv destruktiv erwiesen, und die Gedanken über die Religion sind all zu oft steril gewesen. Wir brauchen einander, um das zu sein, was wir zu sein berufen sind.
Und so fordert bei dieser Gelegenheit der Dreihundertjahrfeier Newtons die Kirche durch meinen Dienst sich selbst und die wissenschaftliche Gemeinschaft auf, ihre konstruktiven Beziehungen des wechselseitigen Austauschs durch Einheit zu verstärken. Sie sind aufgerufen, voneinander zu lernen, den Kontext zu erneuern, in dem Wissenschaft geschieht, und die Inkulturation zu fördern, welche eine vitale Theologie braucht. Jeder von Ihnen hat von einer solchen Interaktion etwas zu gewinnen, und die menschliche Gemeinschaft, der wir beide dienen, hat das Recht, sie von uns zu verlangen.
Allen, die an dieser vom Heiligen Stuhl geförderten Studienwoche teilgenommen haben, und all jenen, die die hier veröffentlichten Texte lesen und studieren, wünsche ich Weisheit und Frieden in unserem Herrn Jesus Christus, und erteile ihnen herzlich meinen Apostolischen Segen.
Aus dem Vatikan, 1. Juni 1988
Joannes Paulus Pp II
Diese Botschaft von Papst Johannes Paul II. wurde dem Band Robert John Rüssel, William R. Stoeger S.J. and George V. Coyne S.J., Eds., Physics, Philosophy and Theology: A Common Quest for Understanding, Specola Vaticana, Cittä del Vaticano, 1988, mit der Seitenzählung M1 bis M14 vorangestellt. Die von Karl Schmitz-Moormann erstellte Übersetzung (aus: Schöpfung und Evolution, hg. v. Schmitz-Moormann, Düsseldorf 1992, 149-160) verweist in eckigen Klammern auf die Seitenzählung der englischen Originalausgabe. Der Originaltext findet sich auch in dem Band John Paul II on Science and Religion, Reflections on the New View from Rome, eds. idem, Specola Vaticana, Cittä del Vaticano, 1990.
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