Ansermet, Francois / Magistretti, Pier
Die Individualität des Gehirns – Neurobiologie und Psychoanalyse
Übersetzer: Schröder, Jürgen
Suhrkamp 2005. 282 S.
ISBN-13: 9783518584415
ISBN-10: 3518584413
EUR 22,80
Rezension v. Gottfried Kleinschmidt
Die beiden prominenten Autoren berufen sich an mehreren Stellen ihres neuen Werkes auf die Arbeiten des Nobelpreisträgers Eric Kandel (Nobelpreis für Medizin 2000), der die wichtigen Mechanismen der „Plastizität“ in der modernen Neurobiologie untersucht hat. Die Plastizität ist eigentlich der Mechanismus, durch den jedes Subjekt und jedes Gehirn zu etwas „Einzigartigem“ werden muss. Durch die Mechanismen der neuronalen Plastizität werden Spuren aufgezeichnet, assoziieren sich, verschwinden, verändern sich im Laufe des Lebens. Diese Spuren, die in das System der Synapsen eingeprägt werden, bestimmen zugleich die Beziehungen des Subjekts zur Außenwelt. „Sie haben also eine Wirkung auf sein Schicksal“.
Ein entscheidendes Argument ist, dass die Bildung der unbewussten inneren Wirklichkeit, die auf die Mechanismen der neuronalen Plastizität zurückzuführen sind, nicht nur ein psychisches Phänomen ist, sondern ebenso den Körper betrifft. Es geht um die Tatsache der neuronalen Plastizität. Diese beruht auf der Konvergenz zwischen psychischer Spur und synaptischer Spur an der Schnittstelle zwischen dem Subjekt und dem Organismus und ist grundlegend für die Einzigartigkeit der Individualität. Darüber hinaus schlagen die Autoren Hypothesen für ein Modell des Unbewussten vor, das die neuesten Befunde der Neurobiologie mit den grundlegenden Prinzipien der Psychoanalyse (S. Freud) verbindet.
Das Gehirn ist ein äußerst dynamisches Organ, das in ständiger Beziehung zur Umgebung steht und ebenso zu den psychischen Tatsachen oder Akten des Subjekts. Die neuronale Plastizität des Gehirns erweitert und begründet eine neue Problemsicht. Die Plastizität verbindet somit auch das Genom und die Umgebung auf derselben logischen Ebene. Die Plastizität räumt dem „Unvorhersehbaren“ den gebührenden Platz bei der Bildung der Individualität ein. Daraus ergibt sich der Schluss: „Das Individuum ist biologisch durch die neuronale Plastizität zur Freiheit bestimmt“. Durch die neuronale Plastizität kann die Psychoanalyse mit den Neurowissenschaften verknüpft werden. Der Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Fr. Ansermet und der Neurowissenschaftler P. Magistretti stellen enge Beziehungen zwischen der „synaptischen und der psychischen Spur“ fest und stellen die neuronale Plastizität in das Zentrum der Argumentation.
Die neuronale Plastizität ist insbesondere in Verbindung mit Lern- und Gedächtnisprozessen untersucht worden. Bei den neuronalen Schaltkreiscn handelt es sich um die Fähigkeit der Neuronen, ihre Wirksamkeit zu verändern, mit der sie Informationen übertragen. Die neuronale Plastizität ist eine biologische Wirklichkeit, die zugleich die Grundlage für die Vorstellung von der Einmaligkeit des Subjekts bildet. Der englische Neurobiologe Robert Turner hat dies wie folgt ausgedrückt: „We never use the same brain twice“ (Wir gebrauchen nie zweimal dasselbe Gehirn).
Man kann in Verbindung mit der neuronalen Plastizität drei Arten von Spuren unterscheiden: Es gibt Spuren, die unmittelbar bewusst sind oder bewusst gemacht werden können, es gibt weiter Spuren, die sich dem Bewusstsein sekundär durch Mechanismen der fortgesetzten Assoziation entziehen und dadurch zu einer Diskontinuität zwischen Wahrnehmung und Spur führen, und es gibt solche Spuren, die unmittelbar und auf Anhieb unbewusst sind. An der Schnittstelle zwischen äußeren Reizen und somatischen Reaktionen sowie der Reaktivierung von unbewussten Spuren spielt die Amygdala (Mandelkern) im menschlichen Gehirn eine entscheidende Rolle. Die Amygdala ist eine wesentliche Schnittstelle zwischen der Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit, der Bestimmung somatischer Zustände und der Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses. Die in der Amygdala aufgezeichneten Spuren bilden das Substrat für die unbewusste innere Wirklichkeit. Sie bilden die Grundlage für die verschiedenen Szenarios von Phantasievorstellungen.
Die Schlussfolgerung lautet: Die unbewusste innere Wirklichkeit moduliert die Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit und führt daher zu einem stark individualisierten und für jede Person einzigartigen Beurteilungs- und Handlungsprozess. Die beiden Autoren stellen fest: „Wenn diese innere Wirklichkeit nicht existierte, würden wir wahrscheinlich sehr einheitlich handeln, vielleicht nicht bloß reflexhaft und automatisch, denn die kognitiven und emotionalen Erinnerungen, die für die Erfahrung jedes einzelnen charakteristisch sind, wären ebenso einzigartig, aber doch weniger verschiedenartig und kreativ. Tatsächlich ist es gerade diese unbewusste innere Wirklichkeit, die aus uns einzigartige Wesen macht“. Man kann also berechtigt sagen: „Jeder hat sein eigenes Gehirn!“ und jeder hat auch seine eigene unbewusste innere Wirklichkeit. Der Zugang dazu erfolgt über die „analytische Arbeit“. Die neuronale Plastizität hat weitreichende Konsequenzen für das Wahrnehmen, Fühlen, Empfinden und Denken des Menschen und damit auch für das Lernen und Behalten. An dieser Stelle kann auf ein anderes neues Werk zur „Neuro-Psychoanalyse“ von K. und M. Solms (Stuttgart [Klett] 2003) aufmerksam gemacht werden. Die Neuro-Psychoanalyse eröffnet eine neue Sichtweise zwischen Tiefenpsychologie und Neurowissenschaften. Es geht um ein komplettes Mosaik von neurogenen Syndromen der Persönlichkeit. In diesem Mosaik spielen die Beziehungen zwischen Kognition, Motivation und Emotion eine Schlüsselrolle.
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