Josef Quitterer
Ist die Seele eine Illusion?
Vortrag auf der Tagung „Abschied von der Seele?„, Weingarten 23.-24. Juni 2007
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Ausführliche Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Annahme einer Seele bei Aristoteles keineswegs einen Dualismus impliziert. Aristoteles wendet sich ausdrücklich gegen die dualistische Konzeption Platons und lehnt sowohl die Annahme einer unspezifizierten geistigen Substanz als auch die einer konkreten geistigen Entität ab. Die Seele wird von Aristoteles vielmehr als Funktionsprinzip des lebendigen Körpers verstanden. Um zu existieren benötigt sie ebenso wenig eine besondere Existenzform wie die Funktionsweise einer Axt eine besondere Qualität der Existenz neben den materiellen Bestandteilen dieser Axt erfordert. An anderer Stelle vergleicht Aristoteles die Realität der Seele und ihr Verhältnis zum Körper mit der Sehkraft und ihrer Beziehung zum physischen Organ des Auges.
Damasios realistische Bestimmung des Selbst als neurobiologische Repräsentation des dynamischen Gleichgewichts der verschiedenen Körperzustände zeigt eine Möglichkeit auf, wie auch angesichts der neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung von einer realen und kausal wirksamen Seele (oder einem realen Selbst) gesprochen werden könnte, ohne gleich in einen Substanz-Dualismus zu verfallen. Die jüngsten Arbeiten von Damasio und anderen Fachleuten zeigen, dass ein adäquates Verständnis geistiger Prozesse nur im Zusammenhang mit der Repräsentation körperlicher Veränderungen möglich ist. Auf der anderen Seite lässt sich das Leib-Seele-Problem nicht auf ein mind-brain-Problem reduzieren, wie das in den letzten Jahrzehnten vor allem von naturalistisch gesinnten Philosophen nahegelegt wurde. Es ist sicher bemerkenswert, dass sich die jüngsten interdisziplinären Diskussionen im Bereich der Gehirnforschung in die Richtung einer Bestimmung des menschlichen Geistes bewegen, die der aristotelischen Seelenlehre sehr nahe kommt. Die mentalen Fähigkeiten können demnach nur verstanden werden vor dem Hintergrund der Gesamtorganisation des Organismus, in dem sie auftreten. Die aristotelische Auffassung von der Seele als Lebensprinzip des organischen Körpers und vom intelligiblen Seelenvermögen als erster Entelechie des menschlichen Organismus erfährt auf diese Weise eine neue Aktualität. Die Annahme einer Seele liefert sozusagen ein funktionales Prinzip zur Erklärung des Gesamtverhaltens von Organismen. Bezogen auf die Neurobiologie heißt das, dass der Ablauf der einzelnen neuralen Prozesse auf der Ebene der Gehirntätigkeit allein völlig unverständlich bleibt. Erst wenn man den ganzen Organismus und seine funktionale Architektur in den Blick nimmt, lassen sich die einzelnen Prozesse in ihrer Relevanz für das kognitive Geschehen erkennen.
Bei Aristoteles kommt diese Aufhebung der Trennung zwischen dem geistig-mentalen auf der einen und dem biologisch-physikalischen Bereich auf der anderen Seite dadurch zum Ausdruck, dass er die Seele die erste Entelechie des Körpers nennt. So ist z. B. beim Menschen die Vernunftseele nicht nur für die höheren kognitiven Fähigkeiten verantwortlich, sondern sie bestimmt auch die grundlegenden physiologischen Prozesse des menschlichen Organismus. In der aristotelischen Auffassung wird die Seele sowohl zur Erklärung biologisch-physikalischer als auch mentaler Phänomene herangezogen. Das Explanandum von Seele erweitert sich auf diese Weise auf das gesamte Erleben und Verhalten von Organismen. Die Annahme einer Seele bietet zudem eine Möglichkeit, wie die Alltagsintuition der personalen Identität mit der Erfahrung der Veränderung zusammen gedacht werden kann. Die Seele steht sozusagen für dasjenige in Mensch, Tier und Pflanze, das nicht den Veränderungen unterworfen ist, weil es ihnen als kausales Prinzip zugrunde liegt.
Ausführlich nachzulesen in: Quaestiones disputatae 205: P. Neuner (Hg.), Naturalisierung des Geistes – Sprachlosigkeit der Theologie? Die Mind-Brain-Debatte und das Christliche Menschenbild, Freiburg 2003, 79-97.
Dieser Beitrag ist Teil der Tagung „Abschied von der Seele?„.
Die Beiträge der Tagung in voller Länge:
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