Mehr als siebenunddreißig Jahre lang legt der bekannte Physik- und Astronomielehrer den Weg von seinem Haus zum College zurück. Er kennt jeden Weg, jede Pflanze, alle Tiere, alle Gebäude und deren Geschichte. Die Kapitel des Buches sind zugleich markante Punkte auf diesem täglichen Weg zur Arbeit: die Siedlung, der Wald, am Wegesrand, der Bach, die offenen Felder, die Auwiese, die Gärten.
Überall hält er inne, beobachtet, analysiert, reflektiert und stellt Zusammenhänge zwischen dem Alltäglichen, dem Besonderen und dem Universellen her. Er stellt fest, dass wir in der Natur mehr beobachten können, als unsere Augen uns sehen lassen.
Wir müssen genau hinhören, sehen, fühlen, schmecken, dann erhalten wir Zugänge zum „Ganzen“. Die Leserinnen und Leser werden in diesen faszinierenden Beobachtungs- und Analyseprozess einbezogen und erhalten wichtige Impulse zur Selbstreflexion.
So erlangen selbst die Steine Lebendigkeit. Sie sind aus Eiszeitgräbern zum Sonnenlicht auferstanden und sind bezaubernde Wahrzeichen der Vergangenheit und bilden heute den wichtigen Lebensraum der Eichhörnchen und Eidechsen. Dazu gehört auch „die Geschichte von den wandernden Steinen“.
Nachdenklich stellt Ch. Raymo auf seinem Arbeitsweg fest: „Dem Universum wohnt eine unendlich kreative Fähigkeit zur Selbstorganisation inne, und jede Pflanze, jedes Lebewesen auf meinem Weg erzählt seine Geschichte von zunehmender Mannigfaltigkeit und Komplexität. Wenn ich mich niederknie und unter der Lupe den Blutweiderich untersuche, werde ich mit Erstaunen Zeuge der grundlegenden Schöpfungsgeschichte: Evolution durch gemeinsame Abstammung und natürliche Auslese“. Mehrfach reflektiert Ch. Raymo über die Bedeutung des „Zeitpfeils“ in der Evolution und zitiert Kosmologen, Physiker und Philosophen. Mehrere Fragen kann er positiv beantworten: Sind wir Menschen lediglich Instrumente, um den nächsten Schritt der kosmischen Evolution herbeizuführen? Gibt es im Universum unter den Galaxien mit hunderten Milliarden von Dichtegraden und freier Energie noch ganz andere Formen von Komplexität und Organisation?
„Der Zeitpfeil“ spielt auch im Kosmos und im Universum eine Rolle bei der Evolution.
Bei seinen Naturbeobachtungen stößt Ch. Raymo auch immer wieder auf das „Heilige“, so etwa bei der Beobachtung des Monarchfalters, und er stellt in diesem Zusammenhang fest: „Wenn ich heilig sage, meine ich jenes unfassliche Etwas, das zum Beispiel eine kriechende Raupe dazu veranlasst, ihre Moleküle zu einem geflügelten Engel umzubauen und ihn über einen Kontinent zu einem Stück Tannenwald in Mexiko flattern zu lassen, den er zuvor noch nie gesehen hat“. Um dieses Staunen zu erlangen, brauchen wir ein tief empfundenes, instinktives Gefühl, dass es hinter dem bunt schillernden Anblick von vielen Millionen Schmetterlingen eine natürliche und unendliche Kraft gibt, „die alles Leben zu einem heiligen Ganzen verbindet“. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die „Lebensmoleküle“.
Es herrscht eine unablässige chemische Dynamik, die spinnt und webt, Sonnenlicht einfängt, atmet, kopiert und korrigiert. Das grundlegende chemische Substrat ist in jedem Lebewesen ziemlich ähnlich: in Fröschen, Käfern, Schmetterlingen, Gänsen, Weiden, Gräsern oder Bakterien. Hinter der scheinbaren Komplexität der Vielfalt des Lebens steckt eine erstaunliche Einfachheit. Es ist die „DNA-Struktur alles Lebendigen“. An dieser Stelle weist Ch. Raymo auf Zusammenhänge zwischen der B-Form der DNA-Doppelhelix und den Rosetten der Kathedrale von Chartres hin: „Ein Querschnitt durch die B-Form der DNA-Doppelhelix zum Beispiel hat Ähnlichkeit mit einer der herrlichen Rosetten der Kathedrale von Chartres“.
Auch hier gibt es eine fast „mystische Vision einer verborgenen Harmonie, die im ganzen Kosmos existiert“. Die Vielfalt des Lebens und des Lebendigen weckt die Ehrfurcht vor der unsichtbaren Harmonie von Form und Funktion, von Komplexität und Einfachheit, von unendlicher Größe und unendlicher Winzigkeit. So hat die „Genomrevolution“ mehr als deutlich gemacht, dass der Mensch bis zur Wurzel und Grundlage seines Wesens „eins ist mit der übrigen organischen Welt … Und die Einheit geht noch tiefer, sie reicht bis zu den steinernen Fundamenten des Planeten“.
In der Natur und im Kosmos herrschen in vielfacher Abwandlung Ordnung und Unordnung, Gesetz und Chaos. Gesetz und Chaos sind sogar die beiden kreativen Prinzipien, die für den Wandel bestimmend sind.
Als Physiker und Astronom stellt Ch. Raymo abschließend auf seinem täglichen Weg zur Arbeit fest: „Kein Universum ist möglich ohne eine zeugende Reibung zwischen Leben und Tod, Lärm und Stille, Rigidität und Fluidität, Wiederholung und Störung, Feuer und Eis. Hier auf der Auwiese bin ich ganz von diesen starken Polaritäten umgeben“.
Anzumerken ist noch, dass die Übersetzung einiger schwieriger Passagen hervorragend gelungen ist.
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