
Günter Rager zur Willensfreiheit
Beweisen die Neurowissenschaften, dass wir nicht frei sind?
Günter Rager
Vortrag auf dem RSNG-Jahreskongress 2008 mit dem Themenschwerpunkt „Neurowissenschaften im interdisziplinären Dialog“ vom 17.-19. Oktober 2008, Stuttgart-Hohenheim
Vortrag als vertonte Präsentation
Freiheit ist keine Illusion
Zunächst stellte sich der Mediziner und Philosoph Günter Rager der radikalsten anthropologischen Herausforderung: ‚Beweisen die Neurowissenschaften, dass wir nicht frei sind?‘ Rager traf dazu die wichtige Unterscheidung zwischen Neurowissenschaften und Neurophilosophie. Erstere forschten im klassischen Sinne der Naturwissenschaften, letztere verarbeite die Ergebnisse der Neurowissenschaften zu Welt- und Menschenbildern. Die Neurophilosophen kämen zwar häufig aus den Neurowissenschaften, verträten aber Interpretationen und Theorien, die weltanschaulicher Natur sind. Die Mehrzahl dieser Neurophilosophen gehe in die Richtung eines reduktionistischen Naturalismus. Rager machte unmissverständlich klar, dass der reduktionistische Naturalismus aus der Hirnforschung ebenso wenig folgt wie aus der Physik der Materialismus. Die neurowissenschaftlichen Befunde seien weltanschaulich neutral. Das Problem mit der Freiheit entstehe nicht durch die Neurowissenschaften, sondern durch jene Neurophilosophen, welche neurowissenschaftliche Daten reduktionistisch interpretieren. Experimente, die ‚Ich‘, ‚Freiheit‘ und ‚Gott‘ als Illusion entlarvten, sprächen bei genauerem Hinsehen weder für noch gegen Freiheit.
Im Detail analysierte Rager typische reduktionistische Kernaussagen, exemplarisch die von Wolf Singer und Gerhard Roth. Singers Behauptung: „Verschaltungen legen uns fest, wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“, vergleiche das Gehirn mit einem durch Verschaltung festgelegten Computer und identifiziere den Menschen mit diesem so festgelegten Gehirn. Gerade diese Identifizierung aber wurde von Rager bestritten: „Unsere Selbsterfahrung kann eben nicht auf die neuronalen Korrelate reduziert werden.“ Mit Jürgen Habermas hielt er daran fest, dass die ‚epistemische Kluft‘ zwischen Selbsterfahrung und Hirnprozessen unüberwindbar bleibe. Paradox bleibe auch, dass Singer an die menschliche Einsicht appelliere, sich als ‚Maschinenwesen‘ anzuerkennen. Ein solcher Appell sei jedoch nur dann sinnvoll, wenn man annimmt, dass wir freie Wesen sind, die dem Appell auch folgen können; sie sei somit selbstwidersprüchlich.
Die zweite Kernaussage „Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden“ (Gerhard Roth) setzt offenbar zwei Subjekte oder Entitäten voraus: ein Gehirn und ein Ich. Wenn das Ich ein Produkt des Gehirns sei, warum ist es dann von den Entscheidungen des Gehirns ausgeschlossen, obwohl es sich diese selbst zuschreibt? Wenn es aber eine vom Gehirn unabhängige, lebensweltliche Entität ist, dann werde ein Dualismus (Ich und Gehirn) vertreten, den man gerade überwinden wolle. Solche Sprechweisen könnten allenfalls auf den ersten Blick überzeugen, erwiesen sich aber bei näherer Betrachtung als falsch oder selbstwidersprüchlich. Freiheit ist damit keineswegs widerlegt. Die wirklichen Leistungen der Hirnforschung träten erst zu Tage, wenn der ‚weltanschauliche Ballast‘ entfernt sei.
Der Vortrag wurde im Rahmen des RSNG-Jahreskongress vom 17.-19. Oktober 2008 gehalten.
Die Tagungsbeiträge in der Übersicht
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