Sterbehilfe-Diskussion anlässlich eines Tatorts
Nach der Erstausstrahlung des Tatorts „Der glückliche Tod“ am 5.10.2008 fand im Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim eine Tagung zum Thema Sterbehilfe statt. Mit dabei: Drehbuchautor André Georgi und SWR-Redakteurin Melanie Wolber. Am 23.10.2009 wurde der Tatort mit dem Film- und Fernsehpreis des Ärzteverbands Hartmannbund ausgezeichnet.
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Die ReferentInnen
André Georgi
studierte Philosophie und Germanistik, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie an der TU Dresden. Seit 2001 Arbeit als Drehbuchautor
Melanie Wolber
Südwestrundfunk, HA Film und Familienprogramm, Baden-Baden
Die bewegende Darstellung des Tatorts war ein geeigneter Anlass zu vertiefender Fachdiskussion über Sterbehilfe, ethische Dilemmata, Umgang mit dem Tod – nicht zuletzt aus der Perspektive von Kindern. Die einschlägigen Beiträge brachten die Filmsituationen mit der eigenen Erfahrung und Praxis in Bezug:
Christine Ettwein-Friehs
Diplom-Religionspädagogin, Trauerbegleiterin, Koordinatorin für den Bereich Kinder-Hospiz im Hospiz Stuttgart
Dr. med. Stephan Illing
Arzt für Kinderheilkunde am Zentrum für Mukoviszidose des Klinikums Stuttgart
Annette Katscher-Peitz
Diplom-Psychologin am Zentrum für Mukoviszidose des Klinikums Stuttgart
Brunhilde Leyener
Pastoralreferentin, in der Klinikseelsorge tätig seit September 2003
Prof. Dr. Dietmar Mieth
Ethiker am Katholisch-Theologischen Seminar der Universität Tübingen
Auszüge aus den Beiträgen
Ein Tatort über Sterbehilfe – kann so etwas gelingen, ohne das Thema zu verkürzen?
In der Tat bestätigt Melanie Wolber, von Seiten des SWR für die Lena-Odenthal-Tatorte zuständig, dass das Gleichgewicht zwischen Krimi und Thema eine schwierige Aufgabe darstellt. Man müsse das Versprechen einhalten, einen spannenden Krimi zu erzählen, und gleichzeitig das Thema Sterbehilfe ernst nehmen. Die überwältigende Reaktion auf diesen Tatort habe aber gezeigt, dass die Balance gelungen sei und der thematisch-melodramatische Anteil die Zuschauer sehr berührt habe. Damit, so Wolber, sei ein Hauptziel erreicht: „Wir möchten Menschen berühren“.
Für den Drehbuchautor André Georgi ist es darüber hinaus erstrebenswert, gute narrative Ethik zu bieten, womit er ausdrücklich ein Anliegen Dietmar Mieths aufgreift. So reicht es Georgi nicht, psychologisch stimmige Figuren zu kreieren: „Wirkliche Figuren brauchen eine moralische Perspektive, ein moralisches Dilemma“. Den Film zeichnet aus, dass es eine Vielfalt solcher Figuren gibt, die damit auch eine ganze Palette der Diskussion um Sterbehilfe spiegeln. Die psychologische Stimmigkeit wiederum stellt sicher, dass diese Vielfalt der Figuren und Positionen „nicht so wirkt, als ob es ein illustriertes Thesenpapier ist“. Die Figuren „leben“ und nehmen dadurch emotional mit. Inhaltlich wird der Zuschauer dabei nicht auf ethische Schwarz-Weiß-Malerei festgelegt, ihm wird ein differenziertes ethisches Feld ausgebreitet. Selbst den fiktiven Leiter einer Sterbehilfeorganisation, Prof. Scheuren, zeichnet „ein sehr integeres Anliegen mit einer absolut plausiblen Hintergrundgeschichte“ aus. Autor, Regisseurin und Sender wollten – so Georgi – „nicht die Antwort geben, sondern eine Problematik anreißen und die Diskussion anregen“.
Ursprungsidee dieser differenzierten Problematik um Sterbehilfe war beim Drehbuchautor die vermeintlich einfache Frage, wie Kinder mit dem Tod umgehen. Georgi, seinerzeit selbst Vater von Kindern im Alter von 8 und 10 Jahren, war davon beeindruckt, dass Kinder mit dem Tod einen „viel selbstverständlicheren Umgang als Erwachsene“ haben. So ist es kein Zufall, dass die Filmszenen mit den Kindern den größten emotionalen Tiefgang haben – für den Zuschauer, aber auch für den Autor selbst: Auf die Frage, welche Szenen für ihn die liebsten sind, antwortet Georgi: „Die schlimmsten! Ich muss schon sagen, … Sätze wie ‚Denkst Du an mich, wenn Du tot bist?‘ berühren mich immer noch.“
Vom sterbenden Kind weitet sich der Blick auf die Familie und die zentrale Rolle der Mutter. Deren ethisches Dilemma verdichtet sich zu einem Paradox: Eigentlich liebt sie ihr Kind, aber andererseits will sie es töten, weil das Leid unerträglich scheint. „Eine Figur, die töten will aus Liebe: Das ist ein heißer Kern. Wenn man diese Idee einmal hat, dann muss man dranbleiben“.
Das Endprodukt schließlich überzeugt und belegt, dass ein differenziertes Melodram tatsächlich als Krimi gestaltet und zur Prime Time gesendet werden kann. Mit dem Tatort, so weiß Georgi, hat man dann die Chance, ein sehr großes Publikum zu erreichen und dieses gleichzeitig mit ethischen Fragen zur Diskussion anzuregen: „Was will man als Drehbuchautor mehr?“.
„Sterben ist keine Idylle, und manchmal ist es ein Verbrechen, nicht zu helfen.“ (Filmzitat, Prof. Scheuren)
Dem Film sei es gelungen – so der Tübinger Ethiker Dietmar Mieth mit den Worten von Siegfried Lenz – „das zu erfüllen, was man für ein ethisches Modell braucht: Möglichst viele Perspektiven und Strittig-Bleiben bei allem Wegweisenden“.
Als professioneller Ethiker jedoch vertritt Mieth eine klare Position gegen aktive Sterbehilfe und direkte Tötung eines Menschen. Davon unterscheidet Mieth jedoch die indirekte Tötung, die etwas anderes beabsichtigt, z. B. Schmerzlinderung, aber mit der Schmerzlinderung eine Verkürzung des Lebens in Kauf nimmt. Positiv stellt sich Mieth hinter die Empfehlungen des Europarates von 1999. Dieser spricht von einem gesetzlich garantierten Anrecht auf umfassende Palliativpflege und bekräftigt eindeutig das Verbot der vorsätzlichen Tötung von Todkranken und Sterbenden. „Wer den guten Tod sucht“, so Mieht, „soll auf die Hilfe des Sozialstaates oder der solidarischen Gesellschaft in der Form der Sterbebegleitung rechnen können“. Die Institutionalisierung der Palliativpflege könne auch ein „sozialer Präventivweg sein, um Situationen wie Tötung aus Mitleid mit fortschreitender Entwürdigung etwa der Kranken – ‚menschenwürdig Sterben‘ wird dann gesagt – zu vermeiden“. Auch die Ethikräte in Deutschland sähen – bei allen sonstigen unterschiedlichen Einschätzungen – in der Palliativmedizin und in der Hospizarbeit eine Linderung des Problems.
Dennoch. Der Ausspruch Prof. Scheurens, im Film Leiter der Sterbehilfeorganisation Charontas, steht noch im Raum: ‚Sterben ist keine Idylle, und manchmal ist es ein Verbrechen, nicht zu helfen.‘ Wie steht der Ethiker Mieth dazu? „Ich denke, dass wir den Einzelfall mit der Ethik nie ganz erreichen. Das muss ganz klar und deutlich gesagt werden. Und ich glaube auch, dass es Menschen gibt, die im Einzelfalle bereit wären, über den Schatten ihrer eigenen Normativität zu springen.“ Mieth will aber angesichts von Einzelfällen nicht die Grundsätze verloren geben: „Es geht darum, beides festzuhalten: den Einzelfall, in dem es nicht möglich ist, normativ alles durchzubuchstabieren, und auf der anderen Seite den Grundsatz. Und Grundsätze halten wir dadurch aufrecht, dass wir uns in einer Gesellschaft darauf einigen, daran festzuhalten (so wie der Europarat in der genannten Formulierung) auch in Gesetzen“. Man dürfe den Einzelfall „nicht dazu benutzen, neue Gesetze zu machen“. Gerade das aber „ist eine Neigung in unserer Gesellschaft“. Mieth weiter: „Je amerikanischer wir werden, umso mehr kommen wir in diese kasuistische Falle hinein. Auf der anderen Seite sollte man den allgemeinen Grundsatz nicht dazu benutzen, Einzelfälle zu beurteilen.“
Aus theologischer Perspektive wäre noch an eine Spiritualität der Passivität zu denken, eine Hinnahme des Sterbens; eine Passivität, die aber mit einer Aktivität verbunden sein müsse. „Und diese Aktivität besteht in der Fürsorge und in der Bereitschaft, die Kranken zu begleiten.“
„Manche haben Glück und werden damit 30, aber Julia hat kein Glück“ (Filmzitat, Katja Frege)
Die neunjährige Julia Frege des Films ist Gott sei Dank für die heutige Zeit untypisch. „Die meisten Mukoviszidosepatienten werden deutlich älter, und wir haben in unserer Ambulanz Patienten, die über 40 sind“, weiß Stephan Illing, Arzt am Stuttgarter Zentrum für Mukoviszidose, zu berichten. Dass konkrete Altersprognosen wegen zunehmend besser werdender medizinischer Möglichkeiten immer falsch sein können, macht Illing mit dem Zitat eines erwachsenen Patienten deutlich: „Als ich geboren wurde, hat man meinen Eltern gesagt, ich kann 10 werden; als ich 11 war, hat man meinen Eltern gesagt, ich kann 15 werden; als ich 16 war, hat man mir gesagt, ich kann 20 werden; jetzt bin ich 25; wahrscheinlich bin ich unsterblich.“
Allerdings räumt Illing ein, dass in wenigen Fällen tatsächlich auch Kinder an Mukoviszidose sterben. Die Gründe können in einer späten Diagnose, die bereits viele Organschäden hat entstehen lassen, in seltenen Komplikationen oder in Versäumnissen liegen. „Aber die allermeisten Patienten werden heutzutage erwachsen, und wenn die Eltern mich fragen, sage ich immer, was das Wichtigste für sie ist: Normales Leben – trotz Mukoviszidose.“
Das Thema ‚Sterben‘ anzusprechen ist nicht immer einfach. „Wenn ich von ärztlicher Seite aus das Thema Sterben anspreche, dann heißt es: Oh, der hat mich jetzt aufgegeben. Diesen Gedanken möchte ich ja auch nicht auslösen.“ Andererseits kann man nicht warten, bis es dem Patienten so schlecht geht, dass er nicht mehr klar denken kann.
„Wir müssen also irgendwo zwischen dem Sterbeprozess selber und dem Prozess, wo es ihm noch gut geht, dieses Thema anschneiden und fragen: Was wollen wir? Möchtest Du eine Lungentransplantation haben?“ Gerade Lungentransplantationen sind jedoch nicht so optimistisch einzustufen, wie manchmal dargestellt wird. Und dann stellt sich die Frage: „Will ich so viel Medizin, nachdem ich schon so viel Medizin erlebt habe? Will ich das wirklich am Ende meines Lebens mit der 50-50-Chance, dass ich es überhaupt schaffe? Und dann mit der Perspektive, dass es nicht endlos weiter geht?“ Wenn solche Gespräche möglich sind, entstehen schriftliche Fixierungen, die den jeweils Diensthabenden zur Verfügung stehen. „Ein Patient hat mir wörtlich gesagt: ‚Nein, ich möchte nicht transplantiert werden, sondern so von der Erde gehen, wie ich gekommen bin; mit allen meinen Organen, auch mit meiner kranken Lunge!’“ In einem solchen Fall wird bei Komplikationen, bei denen eine Chance auf Besserung besteht, zwar intensivmedizinisch behandelt, man verzichtet aber auf die Beatmungsmaschine, wenn es einfach immer weniger und weniger wird – weil die Chance, von der Maschine wieder loszukommen, praktisch gleich Null ist. „Das war eine Strategie, die ich mit einem Patienten besprochen habe, und der ist dann auch sehr, sehr friedlich und mit sich im Reinen gestorben. Und wir hatten auch das Gefühl, dass das so richtig war – für alle Beteiligten.“
Für Illing gab es aber auch Situationen, in denen solche Vorgespräche nicht geführt worden sind. „Ich habe schon erlebt, dass Erwachsene dann relativ qualvoll und lange an der Beatmungsmaschine gehangen haben, und man hat sie nicht wieder davon losbekommen. Es kam eine Komplikation zur anderen hinzu, man hat immer mehr Intensivmedizin gemacht, bis es dann irgendwann nicht mehr ging“. Solche Situationen versucht Illing mit allen Mitteln zu vermeiden, „einfach durch ein richtiges Gespräch zur richtigen Zeit, das im Übrigen auch wiederholt werden kann“.
Auf die Frage, ob in seinem Bereich Erfahrung mit indirekter Tötung vorliegt, antwortet Illing zunächst mit einer eindeutigen Ablehnung der aktiven Sterbehilfe. Aber ein Zustand, in dem Patienten nicht mehr richtig atmen können, sei quälend für die Betroffenen, aber auch für die Umgeben, wenn man sieht, wie jemand erstickt. Hier stelle sich die Frage, ob man nicht Erleichterung durch ein Angst reduzierendes Beruhigungsmittel verschaffen kann. Illing: „Warum muss man eigentlich mit einer solchen erlebten Todesangst über Stunden sterben, wenn man dem Menschen diese Last nehmen kann? Dieses Medikament führt natürlich dazu, dass auch die Atmung dann etwas langsamer wird und der Tod etwas schneller eintritt. Ich habe damit kein Problem und auch kein schlechtes Gewissen, wenn wir so etwas machen, und dem Menschen einfach diesen Übergang ein Stückchen erleichtern, wenn wir einen Teil dieser Angst nehmen.“
Diese Erfahrung des Mediziners hatte Dietmar Mieth in seinem Eröffnungsimpuls bereits als ethisch vertretbare Doppelwirkung klassifiziert: die intendierte Schmerzlinderung und die in Kauf genommene (aber nicht direkt angezielte) Lebensverkürzung.
„Wie halten Sie das eigentlich aus?“ „Gar nicht!“ (Filmzitate)
Die Empfehlung Illings, ein richtiges Gespräch zur richtigen Zeit zu führen, passt für Annette Katscher-Peitz, Psychologin am selben Zentrum für Mukoviszidose, auch auf die Situation hoffnungsloser Überforderung, in die Julia Freges Mutter im Film geraten ist. Das Verhalten der Mutter wirkte für Katscher-Peitz wie eine Kurzschlusshandlung, wie ein Ausstieg aus einem Begleitprozess. Die Begleitung eines kranken (Mukoviszidose-)Kindes muss nicht zwangsläufig so enden! Es gäbe zwar Familien, die den nahenden Tod ihres Kindes oder Angehörigen lange verdrängen, meist aber kann die Familie auch mit guter palliativ-medizinischer Unterstützung der Kinder den Abschiedsprozess durchleben.
Das Entscheidende – und z. T. Unterscheidende – bei Mukoviszidose im Gegensatz zu anderen schwerwiegenden Erkrankungen wie Krebs liegt für die Psychologin darin, dass die Erkrankung das ganze Leben über besteht. Seit der Erstdiagnose setzt eine Auseinandersetzung mit der verkürzten Lebensspanne als jahrzehntelanger mehr oder weniger intensiver Prozess ein, als „kontinuierlicher Auf-und-Ab-Prozess zwischen Konfrontation mit dem Lebensende und der Wiederherstellung von Normalität“. Nur selten gerieten daher Betroffene und ihre Eltern völlig unvorbereitet in die Phase des Lebensendes. Die meisten „haben ganz viel Erfahrung damit machen dürfen, wie es ist, sich mit dem eigenen bzw. dem Tod ihres Kindes auseinanderzusetzen; mehr als ein gesunder Mensch“.
Dieser Weg der Auseinandersetzung und der Annahme der Erkrankung wie der verkürzten Lebensspanne kann psychosozial vielfältig unterstützt werden: „Wir haben ein Zentrum mit vielen Mitarbeitern: Ärzte, Physiotherapeuten, Ernährungsberater, psychosoziale Mitarbeiter, Seelsorger, Sozialarbeiter; es gibt die Schule für Kranke, die sehr wichtig ist für die Betreuung der Schüler, die stationär kommen. Die Patienten kommen in regelmäßigen Abständen, und sie haben mit allen Mitarbeitern kontinuierlich zu tun“.
Kinder gehen unverkrampfter mit Tod und Sterben um als Erwachsene
Neben diesem Setting fördert Katscher-Peitz auch den Austausch der Betroffenen untereinander und mit Fachleuten. Über Bundesverband, Spendenvereine, Informationsabende, Elterngesprächskreise, Grundschultreffs für Schüler etc. steigere sich die Dialog- und Sprachfähigkeit nach außen, aber auch innerhalb der Familie. Katscher-Peitz: „Auf diese Weise unterstützen wir – psychologisch gesprochen – von Anfang an so etwas wie Resilienz, psychische Belastbarkeit. Menschen können unterschiedlich mit Belastung umgehen. Es gibt solche, die haben schwere Schicksale und gehen da trotzdem recht gut durch und brechen nicht darunter zusammen. Das kann man fördern.“
Von Diagnoseeröffnung an hält Katscher-Peitz die Beachtung der Perspektive des Kindes für äußerst wichtig. Die Belastung der Elternteile könne eine andere sein, als die des Kindes, und man könne vom eigenen Erleben nicht unbedingt auf das Erleben des Kindes schließen. Bestes Beispiel ist das mukoviszidosekranke Mädchen, das die Julia des Films synchronisiert hat. Katscher-Peitz erfuhr, dass sich über die Arbeit des Films Gespräche ergaben, in der die Jugendliche überraschenderweise eine viel tiefere innere Auseinandersetzung und Klarheit über diese Lebensphase offenbarte, als ihre Mutter erwartet hatte.
Die Kommunikation darüber, wo der einzelne in dem Prozess steht, was er möchte und was er nicht möchte, sei von entscheidender Wichtigkeit. Dabei gehe es neben den ärztlichen Gesprächen auch um Gestaltungsprozesse: „Wichtig ist, dass in der Familie nicht nur hingenommen wird, sondern auch gestaltet wird“. Bei diesen Gestaltungsprozessen wiederum findet Katscher-Peitz die Eingebundenheit wichtig, damit Eltern und Kind mit ihren Nöten nicht so alleingelassen sind wie im Film: „Es ist gut, dass die Betreuung auf vielen Füßen steht und dass sie ein gegenseitiger Öffnungs- und Hinwendungsprozess ist. Es muss nicht dazu kommen, dass ein Kind allein in so einem Rahmen versterben muss.“
Die Perspektive des Kindes wurde mehrfach aufgegriffen und von Christine Ettwein-Friehs, Leiterin des Stuttgarter Kinder-Hospizes, besonders stark gemacht.
Aus ihrer Erfahrung als Trauerbegleiterin weiß sie, dass Kinder, insbesondere kranke Kinder, grundsätzlich unterschätzt werden, weil Erwachsene immer das Gefühl haben, Kinder beschützen zu müssen. Ettwein-Friehs fragt kritisch: „Wen wollen wir eigentlich beschützen? Die Kinder, oder uns selbst?“ Von daher empfiehlt sie in der Kinderhospizarbeit einen kinderzentrierten Grundansatz: „Ich gehe davon aus, dass das Kind der Experte für seine Situation ist“. Setzt man dies voraus, ist es wichtig, nicht über, sondern mit Kindern zu sprechen, um an ihrem „Expertenwissen“ teilzuhaben. Dieses Wissen teile sich freilich nicht immer nach Art eines Erwachsenengesprächs mit, sondern finde sich unter Umständen auf einer ganz anderen Ebene, auf die man sich einlassen muss. Beeindruckend sei dabei die kommunikative Kompetenz der Kinder und ihre Rücksichtnahme: „Ganz oft ist es so, dass Kinder genau wissen, was sie mit wem besprechen können; dass sie ihre Eltern schützen oder andere nahe Angehörige, weil sie genau wissen: Die halten die Wahrheit gar nicht aus, die halten mein Wissen gar nicht aus. Und dann sind Kinder wahnsinnig rücksichtsvoll. Und sterben, wenn die Mama zur Toilette ist.“
Manchmal – und damit ist noch einmal ein Bezug zum Film hergestellt – nehmen Kinder auch den Impuls auf, den die Mutter setzt („Ich weiß, es soll endlich vorbei sein“), und drücken durch ihren eigenen Mund den Wunsch der Mutter aus („Mama mach, dass es vorbei ist!“). Ettwein-Friehs erinnert daran, dass sich im Film sofort die Frage nach dem Vater anschließt („Kann Papa wiederkommen?“), und fragt: „Soll vorbei sein, dass die Familie getrennt ist? Wir suggerieren sofort, dass das Kind an sein Lebensende denkt. Wissen wir das? Hat sich jemand wirklich mit dem Kind so beschäftigt und Kontakt aufgenommen, dass wir uns erdreisten können, zu wissen, was das Kind meint?“
Der Moderator ergänzt diese Szene mit der Sterbensszene, in der Julia einen letzten Wunsch äußert: „Du musst jetzt kommen, Mama!“ Auch dies könne als Hinweis darauf verstanden werden, dass sich dort eher der Wunsch nach Begleitung als nach einem vorzeitigen Sterben ausdrückt. Ettwein-Friehs bejaht dies nachdrücklich: „Kinder brauchen wirklich jemanden, der an ihrer Seite ist. Und wer da für mich die stärkste und beeindruckendste Figur ist, ist natürlich der kleine Bruder. Der Bruder begleitet eigentlich die Julia am besten; so, wie man sich das wünschen würde, auch mit den wenigsten Schwierigkeiten, die Dinge beim Namen zu nennen: Tot ist da tot, und da wird halt ein Leichnam verbrannt. Der Bruder hat sich damit schon ganz intensiv auseinandergesetzt.“ Im Kontrast dazu stehe die Mutter: „Die Mutter in dieser ganz einsamen Rolle kann eigentlich die Nähe zu ihrer Tochter gar nicht aushalten. Möglicherweise bräuchte die Julia in dem Moment, als sie stirbt, die Mama am allermeisten. Und sie stirbt genau in dem Moment, weil sie weiß, die Mama würde das nie und nimmer aushalten. Ich würde in der Situation natürlich kinderhospizliche Begleitung der Familie wünschen.“ Eine solche Begleitung sei die Begleitung eines langen Weges, da die Krankheit ja nicht plötzlich und kurz vor dem Ende über die Familie hereinbreche. Eine solche Begleitung ermögliche der Mutter auch Auszeiten, damit sie sich mit ihren Kindern mitentwickeln kann. Nicht immer stehe deshalb das kranke Kind im Zentrum der Kinderhospizarbeit: „Manchmal ist es so, dass das Kind am meisten davon profitiert, wenn die Mutter jemanden hat, auf den sie sich stützen kann und der ihr hilft, diesen Weg bis zum Ende zu gehen.“
„Ich möchte gern wissen wie es ist – danach“ (Filmzitat, Julia)
Julia fragt nach dem Jenseits und bekommt von Kommissarin Odenthal eine einfühlsame und kindgerechte Antwort. Aber sie fragt nach und sucht nach Gewissheit: „Hast Du Dir das ausgedacht?“ Ist die Aussicht auf ein Jenseits also reines Wunschdenken oder steht dahinter eine Realität?
Auch die Klinikseelsorgerin Brunhilde Leyener hat diese Szene angerührt und beeindruckt. Auch sie glaubt, dass Kinder das Grundbedürfnis haben, sich zu vergewissern: „Zu vergewissern in dem Sinne, dass sie fragen, was war und was ist und was kommen wird“. Allen Kindern – auch aus areligiösem Kontext – sei gemeinsam, dass sie sich nicht vorstellen können, dass es nach dem Tod nicht weitergeht. Auch Fragen nach Konkretionen seien ihnen wichtig: „Wie ist es da? Ist da auch alles, was mir wichtig ist? Das Lieblingsspielzeug, der Hase, der mich immer begleitet hat; hat der auch ein Anrecht darauf, an dem Ort zu sein, wo ich hinkommen werde?“ Bedeutsam sei Kindern weiterhin, ob und wie sie mit den Menschen, die zurückgelassen werden, in Verbindung bleiben können. So fragt im Film der Bruder: „Denkst Du an mich, wenn Du tot bist?“, und Julia antwortet: „Klar, ich denk an Dich!“.
Im Film wie in Wirklichkeit spielt auch die Frage nach dem Wiedersehen und dem Wiedererkennen eine Rolle. Leyener kennt dies aus eigener Erfahrung bei der Betreuung eines sterbenden Kindes: „Ich habe dann dem Jungen erzählt, dass ich glaube, dass man sich über das Liebhaben wieder entdeckt. Das ist ähnlich, wie die Antwort von Frau Odenthal.“
Die Details, in denen Kinder Jenseitsvorstellungen in Bildern oder Geschichten ausdrücken, haben dann viel mit ihrer jeweiligen Sozialisation zu tun. Ihre eigenen Bilder machen Kinder im Allgemeinen an Vorstellungen von Personen fest, die ihnen wichtig sind. „Und wenn die ausfallen, wie in dem Film, kann das auch mal eine Kommissarin oder jemand anders sein; das kann die Psychologin sein, das kann die Frau vom Hospiz sein, das darf manchmal ich sein.“ Kinder wollen jedenfalls nicht irgendeine, sondern eine glaubwürdige Antwort, wie die Nachfrage Julias zeigt. „Ich denke, dass Kinder sehr tief spüren: Kann ich der Person, die ich da frage, auch vertrauen? Manchmal fragen sie – wie auch in diesem Film – noch mal nach: Kann ich Dir vertrauen, darf ich Dir glauben? Kann ich Dir glauben und glaubst Du auch mir? Glaubst Du auch mir mit dem, was ich spüre, was ich weiß, was ich schon einbringen kann, und hilf mir doch weiter auf den nächsten Schritt.“
Abschließend untermauert Leyener mit dem Film noch einmal die Einsicht von Ettwein-Friehs, wonach Kinder sehr viel mehr wissen, als man annimmt; dass sie dies aber ganz anders ausdrücken. „Mir ist eine Szene mit dem Bruder sehr nahe gegangen. Das ist der Moment, als diese tolle Schnecke, die die Julia gebaut hat, herunterfällt. Das ist ein Versehen des Bruders, und diese wichtige Schnecke (Julia hat sie in der Reha getont) geht kaputt. Und die Mutter – man merkt, dass sie am Ende ist – braust in dieser Belastung auf und schreit den Bruder an: ‚Hau ab, geh!’. Und dieses Kind geht nicht, sondern es macht genau die Gegenbewegung, es nimmt die Mama in den Arm.
Kann man denn als 4-Jähriger deutlicher sagen: ‚Ich weiß, dass du nicht mehr kannst, und du gar nicht mit mir schimpfst, sondern einfach mit der Situation schimpfst, und deswegen muss ich dich in den Arm nehmen.’ Das ist mir sehr nahe gegangen, und ich glaube, es gibt kaum eine schönere Szene, die deutlich machen kann, was Kinder alles wissen und auf ihre Art und Weise ausdrücken.“
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