Der bekannte biologische Anthropologe R. Wrangham (Harvard University) formuliert gleich in der Einleitung seine zentrale „Kochhypothese“. Diese geht davon aus, dass die großen Übergänge in der menschlichen Evolution auf „die Beherrschung des Feuers und die Erfindung des Kochens zurückgeht“.
Das Kochen und Garen erhöhte den Wert der menschlichen Nahrung. Es hat den menschlichen Körper, das Gehirn und die Zeitnutzung so wie das soziale Leben der Menschen grundlegend verändert. Der Genuss gekochter Nahrung machte uns zu „Energieverbrauchern“ und unser Organismus entwickelte eine neuartige Beziehung zur Natur: Es entstand eine Abhängigkeit von Brennstoffen. Die zentrale „Kochhypothese“ besagt, dass der Mensch in der gleichen Weise dafür eingerichtet ist, gekochte Nahrung aufzunehmen, wie „Kühe dafür eingerichtet sind, Gras zu fressen, oder Flöhe dafür, Blut zu saugen, oder wie jedes andere Tier für seine typische Nahrung“. Die Folgen dieser „Kochhypothese“ durchdringen unser ganzes Leben, vom Körper bis zum Denken. „Wir Menschen sind die kochenden Affen, Geschöpfe des Feuers“. Die Evolutionsbiologie und die biologische Anthropologie durchdringen einander und weisen auf enge Beziehungszusammenhänge zwischen der Qualität der Nahrung, den Verdauungsprozessen und der Gehirnentwicklung hin. Darüber hinaus kann R. Wrangham Wechselbeziehungen zwischen der Esskultur, Sitte und Brauchtum und der Moralentwicklung der Menschen erklären.
Beim Kochvorgang spielen sich vor allem drei maßgebliche Prozesse ab: Die Stärke geliert oder verkleistert, die Proteine denaturieren, und die Konsistenz wird zarter. Diese Prozesse führen zu einer Erhöhung der Energiemenge, die wir aus unserer Nahrung gewinnen, und zwar recht beträchtlich. Als unsere Vorfahren durch das Garen (Kochen) ihrer Nahrung die Energiebilanz entscheidend verbesserten, gaben sie und ihre Abkömmlinge mehr Gene an die nachfolgenden Generationen. Das Ergebnis war eine größere Chance in der Evolution! Die Zeit, in der sich unsere Vorfahren an gekochte Nahrung anpassten, war zugleich die Zeit, in der sie das Feuermachen bereits so gut beherrschten, dass „der Herd“ (die Kochstelle) nie mehr lange kalt blieb. Zu den Konsequenzen des Kochens zählen also eine höhere Energiezufuhr, die weichere Textur der Nahrung, die gemeinsamen Mahlzeiten am Feuer, eine risikoärmere und abwechslungsreichere Kost und eine wesentlich zuverlässigere Versorgung in Zeiten der Knappheit. Wir können davon ausgehen, dass das Kochen bei Menschen vor mehr als dreihunderttausend Jahren aufkam, d.h. noch vor dem Erscheinen des Homo sapiens. Das Kochen und Garen der Nahrung führte außerdem zu einem beachtlichen Wachstum des Gehirns. Folgende Fakten bedeuteten einen besonderen Evolutionsschub in der Geschichte des Menschen: Die Verkleinerung der Zähne, die Umsetzung der zusätzlichen Energiemengen in ein größeres Gehirn, die Zunahme des körperlichen Wachstums, die Verkleinerung des Magen-Darm-Traktes, die Eroberung neuer Siedlungsgebiete. Alle diese Fakten hängen eng mit der „Kochhypothese“ zusammen. Es gibt mehrere Belege und Fakten, die darauf hinweisen, dass das Kochen eng mit dem Ursprung des Homo erectus verbunden ist. Je weniger Energie für die Verdauung der Nahrung verbraucht wird, umso intensiver kann der Energieüberschuss für die Versorgung des Gehirns eingesetzt werden. Dies bedeutet, dass größere Gehirne durch die Verkleinerung von energieaufwendigem Gewebe (Magen-Darm-Trakt) ermöglicht werden. Dies ist eine sehr interessante Schlussfolgerung der „Kochhypothese“. Sobald der Mensch seine Nahrung regelmäßig erhitzte, konnte der Magen-Darm-Trakt kleiner und der dadurch entstehende Energieüberschuss dem Gehirn zugeführt werden. Das durchschnittliche Gehirnvolumen betrug nunmehr 1200 Kubikzentimeter. Die Energieeinsparungen bei der Verdauung führten bereits bei Kleinkindern zu einem beträchtlichen Gehirnwachstum. Gleichzeitig wird deutlich, dass das größere menschliche Gehirn auch für die Entstehung sozialer Netze von großer Bedeutung war, denn ohne die sozialen Netze, die für die Entstehung von Normen entscheidend sind, wäre das Kochen zu einem Chaos in den menschlichen Beziehungen geworden. Es ist wagemutig, in diesem Kontext von „sozialer und emotionaler Intelligenz“ zu sprechen. Das Kochen hatte für die Frauen und für die Männer (d.h. für die Geschlechterbeziehungen) weitreichende Folgen. Es fesselte die Frauen an eine neue, aber untergeordnete Rolle und ermöglichte den Männern ein neuartiges System kultureller Beziehungen! Das Kochen hat den Nährwert der Nahrung enorm erhöht, doch zugleich hat diese Praxis die Autonomie der Frauen erheblich geschwächt. Es gibt sogar eine interessante, weitreichende Beziehung zwischen der „Kochhypothese“ und der Sprachentwicklung der Menschen. Das gemeinsame Essen am Feuer führte zu engeren sozialen Kontakten, vermittelte mehr Sicherheit, förderte die Intelligenz und hatte sogar mehr „Selbstbeherrschung“ (Sigmund Freud) zur Folge!
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