Die Tugenden des Wissenschaftlers

Am 16. Oktober 2011 wurde die Physikerin Barbara Drossel mit dem Bad Herrenalber Akademiepreis 2011 für Ihren Vortrag „Die Rolle des Zufalls in der Evolution aus Sicht einer Physikerin“ ausgezeichnet. Dieser Beitrag schließt nach der Laudatio von Akademiedirektor Klaus Nagorni und dem Festvortrag von Barbara Drossel die nun erschienene Dokumentation der Preisverleihung ab. Zusammen bilden die drei Beiträge eine leicht zu lesende, gleichwohl lesenswerte Einheit.

Korrespondenz statt Konkurrenz

Die Laudatio des Akademiedirektors ist weit mehr als ein festliches Ritual. Da Klaus Nagorni seit Jahren interdisziplinär zwischen Naturwissenschaft und Theologie vermittelt, kann er aus eigener Erfahrung einen Überblick über die gängigen Beziehungsmodelle geben und darin die Position Barbara Drossels verorten. Nagorni benennt vier idealtypische Modelle (12f.): 1. das Konfrontations- oder Konkurrenzmodell, das von einer Unvereinbarkeit von Naturwissenschaft und Theologie ausgeht; 2. das Trennungsmodell, das keine direkte Beziehung (auch keine Konkurrenz) kennt; 3. das Überschreitungsmodell, mit dem sowohl Übergriffe von religiöser Seite (Kreationismus) als auch von naturalistischer Seite (wie Richard Dawkins) klassifiziert werden; 4. das Integrations- oder Korrespondenzmodell, das von gegenseitigem Respekt und der Annahme ausgeht, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse offen sind für religiöse Deutungen.
Es wundert wenig, wenn Nagorni die Position der Preisträgerin – mit ausführlichen Zitaten begründet – dem Korrespondenzmodell zuordnet. Jetzt ist es natürlich spannend, wie Drossel diese Korrespondenz durchführt und naturwissenschaftliche Erkenntnisse für religiöse Deutungen öffnet. Diese Frage nach einer inhaltlichen Korrespondenz zwischen Glauben und Naturwissenschaften wird der abschließende Beitrag Drossels zum Zufallsbegriff beantworten. Zuvor jedoch geht es Drossel nicht um Inhalte, sondern darum „wie die Tätigkeiten von Glauben und Naturwissenschaften zusammenpassen“ (23).

Die Tugenden des guten Wissenschaftlers

Gegen die Dichotomie, mit der manche wissenschaftliches Denken von religiösem Glauben abschotten möchten, weist Drossel auf die „Parallelen zwischen der Praxis des Glaubens und der Praxis der Naturwissenschaft“ (23) hin. In beiden Bereichen hält Drossel sieben Tugenden für erforderlich:

  • Persönliche Bescheidenheit
  • Ausdauer und Verzicht
  • Staunen und Begeisterung, Kreativität und Neugier, denn: „Forschung beginnt mit Neugier und Staunen“ (27), was bei mir die Assoziation wachruft, dass das Staunen laut Aristoteles auch der Anfang der Philosophie ist. Die Brücke zum Glauben wird geschlagen, wenn Staunen die Fähigkeit ist, „hinter dem Alltäglichen das Besondere zu sehen“ (28).
  • Korrekturbereitschaft wird interessanterweise von Drossel nicht nur für die Theologie gefordert (der Begriff „Dogma“ wird ja inzwischen landläufig pejorativ gebraucht und als „Korrekturverweigerung“ missverstanden), sondern auch für die Naturwissenschaften, die ja für sich allzu gern die Korrekturbereitschaft (Falsifikationsfähigkeit, Popper) als selbstverständliches Merkmal ihrer Methode reklamieren. Drossel erinnert zu Recht daran, dass kein Geringerer als Albert Einstein mit seiner Einstellung zur Quantenmechanik dem Ideal der Korrekturbereitschaft gerade nicht entsprochen hat: Mit seinem sprichwörtlichen „Der liebe Gott würfelt nicht“ hielt Einstein „an einer deterministischen Weltsicht fest, obwohl der empirische Befund in eine andere Richtung wies“ (30).
  • Auch Gemeinschaftsfähigkeit wird häufig unter dem Schlagwort der „scientific community“ den Naturwissenschaften zuerkannt, während Glaube gern als subjektiv in die Privatheit abgedrängt wird. Auch hier setzt Drossel ein deutliches Korrektiv, indem sie darauf hinweist, „dass man nicht allein Christ sein könne, sondern dass man die Gemeinschaft brauche“ – und dies nicht nur als Lebensgemeinschaft, sondern auch als wissenschaftliche Gemeinschaft.
  • Dienende Haltung
  • Die Tugend des Verantwortungsbewusstseins sieht Drossel vorbildlich von Francis Collins gelebt, der seine Verantwortung als Top-Wissenschaftler, Leiter des Humangenom-Projekts und bekennender Christ auch darin zum Ausdruck bringt, dass er in Veröffentlichungen der Korrespondenz von Naturwissenschaft und Glaube Breitenwirkung verschafft. „Korrespondenz“ meint hier wieder inhaltliche Entsprechungen, wie sie nun im dritten Teil des Bändchens auch von Barbara Drossel am Phänomen des Zufalls ausgeführt wird.

„Zufall“ in Gottes Schöpfung?

Mit dem Beitrag „Die Rolle des Zufalls in der Evolution aus Sicht einer Physikerin“ packt Barbara Drossel ein heißes Eisen an. Nicht selten sieht man im Zufall eine Absage an einen göttlichen Plan. Auf katholischer Seite ist der Konflikt offen zutage getreten, als Kardinal Schönborn in seinem Artikel „Finding Design in Nature“ sich mehrfach und abgrenzend auf den Zufall bezog, z. B.: „Die Evolution im Sinn einer gemeinsamen Abstammung (aller Lebewesen) kann wahr sein, aber die Evolution im neodarwinistischen Sinn – ein zielloser, ungeplanter Vorgang zufälliger Veränderung und natürlicher Selektion – ist es nicht.“ Für diese Position Rückendeckung von der internationalen Theologenkommission in Anspruch zu nehmen, scheint jedoch unangebracht. Dort (Dokument „Gemeinschaft und Dienst“, Nr. 69) heißt es nämlich:

Aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nach katholischem Verständnis von göttlicher Verursachung wahre Kontingenz innerhalb der geschöpflichen Ordnung nicht unvereinbar ist mit einer zweckvollen göttlichen Vorsehung. …
Göttliche und geschöpfliche Verursachung unterscheiden sich radikal der Art, und nicht nur dem Grad nach. Aus diesem Grund kann sogar das Ergebnis eines wahrhaft kontingenten natürlichen Prozesses trotzdem einem providentiellen Plan Gottes entsprechen…

Ohne auf diese katholische Diskussion einzugehen, argumentiert Drossel ähnlich wie die Theologenkommission mit einer Kompatibilität von Zufall und göttlichem Plan. Die pejorative Besetzung des Zufalls als „blind, ziellos, sinnlos, willkürlich“ komme zwar in der Alltagssprache und populärwissenschaftlicher Literatur vor, tatsächlich jedoch sei „die Interpretation des Zufalls als göttliche Fügung oder des Indeterminismus als Fenster für Gottes Wirken … mit der naturwissenschaftlichen Beschreibung vereinbar“ (49f.). Mehr noch, der Zufall kommt einer christlichen Weltsicht schon auf einer sehr fundamentalen Ebene entgegen: Indem er „explizit Einzug in physikalische Theorien erhalten“ hat, „ist der Determinismus … erschüttert worden“ (48). Darüber hinaus macht Drossel im Kontext der Evolutionstheorie deutlich, dass Zufall nicht isoliert betrachtet werden darf, denn „ein Prozess, bei dem Zufall und Gesetze zusammenspielen, kann durchaus zu eindeutigen Resultaten“ (53) führen. Von Willkür und Planlosigkeit also keine Spur, eher ist der Zufall notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzung für Freiheit. Darum kann auch der katholische Dogmatiker Dieter Hattrup unter dem Titel „Darwins Zufall oder wie Gott die Welt erschuf“ Darwin als Freiheitskämpfer feiern; nicht als „Kaplan des Teufels“, sondern eher schon als „Kirchenvater“.
Was nun Zufall und göttliche Schöpfung miteinander zu tun haben, wie also die lang erwartete Korrespondenz ausformuliert werden könnte, macht Drossel zum Schluss deutlich:

„Dieses Verständnis des Evolutionsprozesses passt sehr gut zur Vorstellung von Gott als dem Schöpfer, der sich eine wunderbar vielfältige und komplexe Welt ausgedacht hat mit all den Mechanismen, nach denen sie funktioniert, der sie aber nicht bis in jedes Detail festlegt, sondern ihr auch die Freiheit gibt, sich in gewissen Grenzen selbst zu entfalten.“ (56)

Damit ist über den Zufallsbegriff eine Brücke zwischen Naturwissenschaft und Theologie geschlagen. Kritikwürdig an dieser Brücke finde ich lediglich die Entscheidung, sich aus den möglichen Evolutionserklärungen diejenige herauszupicken – Simon Conway Morris statt Stephen J. Gould -, die prima vista am besten für eine theologische Deutung geeignet erscheint. Hier bricht die dialogtheoretische Frage auf, welche von alternativen oder gar konkurrierenden naturwissenschaftlichen Erklärungen man in den Dialog einbezieht. Schnell gerät man hier in den Verdacht der theologisch motivierten Rosinenpickerei. Dass man sich sowohl auf Simon Conway Morris als auch auf Stephen J. Gould beziehen kann, hat an anderer Stelle Niels Henrik Gregersen gezeigt. Man wird dies aber nicht gegen Drossel, sondern eher als Ergänzung ihrer lesenswerten „Reflexionen zwischen Glaube und Naturwissenschaften“ einbringen können.
 

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