Das II. Vatikanum redet mit einer sehr hohen Wertschätzung von den Wissenschaften. Es kennt zwei Wissenskulturen (Wissenschaft und Theologie) und zielt auf deren Korrelation.
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Zehn Thesen zum Referenztext (GS 19-21; 36; 54-59 u. 61f; zitiert wird nach Hünermann, 3. Aufl. 2012; Hervorhebungen z. T. von HR)
1. Wissenschaftliche Weltauslegung
Das II. Vatikanum redet mit einer sehr hohen Wertschätzung von den Wissenschaften. Ihre Art einer exakten Welterschließung sei heute unverzichtbar geworden. Die Wissenschaften seien, in Verbindung mit der modernen Technik, sogar in der Lage, einen neuen Humanismus (vgl. 55,1) zu begründen. Bewusst ist sich das Konzil aber auch, dass der moderne Fortschritt durchaus „vielfältige Antinomien“ in sich berge: Der Fortschritt der menschlichen Kultur, der durch moderne Wissenschaften und Technologien ermöglicht werde, könne sich zum Vorteil, aber auch zum Nachteil des Menschen auswirken. Hier gelte es, sich an den ethischen Leitlinien des individuellen Wohles, des Gemeinwohles und des universalen Wohls der gesamten Menschheit zu orientieren (vgl. 59,1).
2. Zwei wissenschaftliche Kulturen
„Gaudium et spes“ (vgl. 36,1-3) kennt zwei Wissenskulturen („eine zweifache Ordnung der Erkenntnis“ /59,3):
zum einen die Kultur der modernen Wissenschaften: Jede Wissenschaft ist auf einen ihr spezifischen Wirklichkeitsbereich bezogen. In diesen Wirklichkeitsbereichen gelten je eigene Gesetzmäßigkeiten. Diese Wirklichkeitsbereiche sind, wie das Konzil sagt, „autonom“. Das hat zur Folge, dass jede Wissenschaft über je eigene Methoden verfügt, ihren spezifischen Wirklichkeitsbereich zu erschließen.
Zum anderen kennt der Konzilstext die Wissenskultur des Glaubens bzw. der Theologie. Auch dieser geisteswissenschaftlichen Wissenskultur stehen je eigene Methoden zur Verfügung, die Welt des Religiösen zu erschließen.
Beide Wissensbereiche sind voneinander zu unterscheiden. Aber die zwei Kulturen, die Kultur der modernen Wissenschaften und die Kultur des Glaubens, werden sich niemals widersprechen, „weil die profanen Dinge und die Dinge des Glaubens von demselben Gott ihren Ursprung herleiten.“ (36,2) Die „Autonomie der zeitlichen Dinge“ (36,3) ist eingebunden in eine schöpfungstheologisch begründete Theonomie. Beide Wissenskulturen sind in ihrer je eigenen Berechtigung anzuerkennen. Dort aber, wo die schöpfungstheologische Theonomie missachtet wird, steht der Mensch in der Gefahr, atheistische Positionen einzunehmen.
3. Atheismus: eine der „ernstesten Gegebenheiten“
„Gaudium et spes“ nimmt zur Kenntnis, dass sich der Atheismus unter den Bedingungen veränderter kultureller und gesellschaftlicher Verhältnisse zu einem brisanten Interpretament moderner Weltauslegung entwickelt hat: Der Atheismus ist „zu den ernstesten Gegebenheiten dieser Zeit zu zählen“ (19,1). Aber: Der Atheismus ist „nichts Ursprüngliches“ (20,3). Seine Entstehung hat verschiedene Ursachen in der modernen Zeitsituation. Aus dieser beunruhigenden Situation heraus wird die theologische Konsequenz gezogen, den Atheismus einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen (vgl. 19,1).
4. Anthropologische Perspektive
Wichtig ist zu sehen, dass das II. Vatikanum den Atheismus nicht aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive behandeln möchte. Der Kontext, in den dieses Thema gestellt wird, ist ein anthropologischer. Joseph Ratzinger kommentiert, dass die Frage nach dem Atheismus sehr bewusst im Rahmen der Frage nach dem Menschen abgehandelt werde. Thematische Kontexte für die Auseinandersetzung mit dem Atheismus bzw. dem Gottesglauben bilden also die Fragen nach der Würde, nach der Freiheit und der Autonomie des Menschen. Der Grund für diese dezidiert anthropologische Perspektive sei der Wille des Konzils gewesen, den Atheismus primär nicht auf ein metaphysisches Versagen der Atheisten zurückzuführen, sondern ihn in einem Defizit an christlicher Humanität begründet zu sehen (Vgl. Ratzinger 1968, S. 339). Dazu erklärt Hans-Joachim Sander in seinem Kommentar: „Der wichtigste Schritt zur Überzeugung der anderen besteht darin, die humane Bedeutung der Rede von Gott selbst zu repräsentieren.“ (Sander 2005, S. 738)
5. Plurale Formen des Atheismus
Viel Wert legt das Konzil darauf zu zeigen, dass der Atheismus kein einheitliches, sondern einplurales Phänomen ist. Aus diesem Grunde werden verschiedene Atheismen erwähnt: Die Aufzählung geht vom Agnostizismus über den logischen Positivismus, den Naturalismus, den Relativismus, den atheistischen Humanismus, einen apersonalen Transzendenzglauben, die religiöse Gleichgültigkeit und die negative Beantwortung des Theodizee-Problems bis hin zu modernen Formen der Ideolatrie (vgl. 19,2).
6. Gründe für den Atheismus
Die Wurzeln bzw. die Gründe für atheistische Positionen sind vielfältig:
6.1. „Nicht frei von Schuld“ für die atheistischen Tendenzen sind Menschen, die sich „absichtlich“ von Gott abwenden und „religiöse Fragen zu vermeiden versuchen“, indem sie „dem Spruch ihres Gewissens nicht folgen.“ (19,3)
6.2. Einen nicht geringen Anteil an der Entstehung des Atheismus haben aber auch die Glaubenden selbst: dadurch, dass sie die Glaubenserziehung vernachlässigen,
6.3. dass sie die Lehre (von Gott) trügerisch darstellen oder dadurch,
6.4. dass ihr religiöses, sittliches und gesellschaftliches Leben Mängel aufweist (vgl. 19,3).
Dort, wo die moderne Zivilisation „allzu sehr in irdische Dinge verwickelt ist“ (19,2), macht sie sich selbst zu Zugang zu Gott schwierig.
Systematische Formen des Atheismus würden sich dagegen wenden, die schöpferische Eigenmacht des autonomen Menschen durch eine Fremdherrschaft Gottes einzuschränken (vgl. 20.1). So argumentiere etwa der zeitgenössische Marxismus, dass religiöse Menschen, die sich in dieses Abhängigkeitsverhältnis stellten, sowohl die ökonomische als auch die gesellschaftliche Befreiung des Menschen behinderten. Das Konzil selbst geht davon aus, dass gerade an dieser Stelle sich das theologische Missverständnis des marxistischen Atheismus befinde: Der christliche Gottesglaube schränkt die Würde, die Freiheit und die Autonomie des Menschen nicht ein, sondern ermöglicht sie. Jede befreiende Anthropologie gründet in der befreienden Botschaft des Christentums.
Insgesamt interpretiert das Konzil das moderne Phänomen des Atheismus als eine kritische Reaktion gegen falsch verstandene und praktizierte Formen von Religion. (Pesch 2012, S. 335; ebenso Rahner/Vorgrimler 1980, S. 428)
7. Theologische Beurteilung des Atheismus
7.1. Auf der einen Seite sieht sich das Konzil aufgefordert, die „verderblichen [atheistischen] Lehren […] mit aller Festigkeit zu verwerfen“ (21,1/vgl. auch 21,6). Joseph Ratzinger macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, „daß das Nein zum Atheismus nicht mit dem Wort ‚damnat“ (verurteilen), sondern mit „reprobat“ (zurückweisen) formuliert“ werde. Das Konzil habe gemäß dem Wunsch des Papstes Johannes XXIII. grundsätzlich auf Verurteilungen verzichtet, um gegenüber der Welt Dialogbereitschaft zu signalisieren (vgl. Ratzinger 1968, S. 344).
7.2. Auf der anderen Seite gesteht man den atheistischen Positionen aber auch zu, dass ihre Anfragen an den Theismus gewichtig („gravitas“) seien und deswegen „die im Geist der Atheisten verborgenen Gründe […] einer ernsten und tiefergehenden Prüfung unterzogen“ (21,2) werden müssten.
8. Vorgeschlagene Reaktionen auf den Atheismus
8.1. Vor dem Hintergrund der analysierten Gründe für den Atheismus, geht der Konzilstext davon aus, dass auf die atheistische Situation in einer doppelten Weise zu reagieren ist:
8.1.1. Es gehe zukünftig darum, die christliche Lehre (von Gott) angemessen darzulegen.
8.1.2. Eine Wirkung gegen den Atheismus sei aber auch von einem redlichen Leben der Kirche und den einzelnen Glaubenden zu erwarten („Zeugnis eines lebendigen und reifen Glaubens“ / Zeugnis der „Märtyrer“ / „brüderliche Liebe der Gläubigen“) (vgl. 21,5).
8.2. Grundlage des Verhältnisses zwischen Theisten und Atheisten solle eine wissenschaftliche Kommunikation und nicht eine gegenseitige Diskriminierung sein (vgl. 21,6)
8.3. Damit, so kommentieren Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, sei ein „würdiges Wort an die Atheisten gerichtet“, das weder von Apologetik und Angst noch von Kreuzzugsstimmung diktiert sei. (Vgl. Rahner/Vorgrimler 1980, S. 429)
9. Gott als Schöpfer
Im Kontext seiner anthropologischen Ausrichtung führt „Gadium et spes“ (19-22) keinen natürlichen Gottesbeweis, wie er etwa auf dem I. Vatikanischen Konzil beansprucht wurde. (Vgl. die Dogmatische Konstitution „Dei Filius“, in der (noch) beansprucht wird, dass Gott „mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden“ (DH 3004) könne). Ganz entschieden wird Gott aber als der Schöpfer aller Dinge bekannt (vgl. 20,1). Alles, was ist, setzt er ins Dasein, sowohl seiner Existenz als auch seinem natürlichen Wesen nach (vgl. 36,2). In Gott gründet die Autonomie aller Wirklichkeitsbereiche und die Würde und die Freiheit des Menschen. Es sei v.a. die „eschatologische Hoffnung“, die den Menschen dazu motiviere, seine irdischen Aufgaben zu erfüllen und die „die Rätsel von Leben und Tod, Schuld und Schmerz“ nicht ohne Lösung lassen würde (vgl. 21,3). Die Selbstkritik am defizitären Humanum der Christenheit führt das Konzil dazu, dieses Humanum im Christus- bzw. im Gottesglauben erneuern zu wollen.
10. Korrelation von Wissen und Glauben
Das Konzil verweist auf eine Korrelation von wissenschaftlicher und religiös-theologischer Welterschließung. Beide, Wissen und Glaube, seien miteinander zu „verbinden“; „mit vereinten Kräften“ gehe es darum, „zusammenzuarbeiten“ und beide Wissensbereiche miteinander in Beziehung zu setzen. Die Theologie ist aufgefordert, „die Verbindung mit der eigenen Zeit nicht [zu] vernachlässigen.“ (62,6f) Eine zeitgemäße theologische Forschung müsse die Zeichen der Zeit in die theologische Reflexion einbeziehen.
Quellentexte
Hünermann, Peter (2012) (Hrsg.): Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen, Lat.-dt. Studienausg., 3. Aufl., Freiburg i.Br.: Herder.
Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert (1980): Kleines Konzilskompendium, Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, 14. Aufl., Freiburg i.Br.: Herder [1. Aufl. 1966].
Kommentierende Texte
Pesch, Otto Hermann (2012): Das Zweite Vatikanische Konzil, Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte, 4. Aufl. Kevelaer: topos.
Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert (1980): Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“, S. 423 – 447 (Einleitung).
Ratzinger, Joseph (1968): Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis „Gaudium et spes“), Erster Hauptteil: Kommentar zum I. Kapitel, in: LThK2, Das Zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare, Teil III, S. 313 – 353.
Sander, Hans-Joachim (2005): Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Unter Mitarb. v. Guido Bausenhart/Ottmar Fuchs/Helmut Hoping u.a., Freiburg i.Br. u.a.: Herder, Bd. 4, S. 581 – 869, hier bes. S. 734 – 739.
Quelle der Aufzeichnung
Workshop bei der Tagung „Anfang des Anfangs – und wie geht es weiter? Aktuelle Konzilshermeneutik und Konzilspragmatiken des Vaticanum II“, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 16.-18. Mai 2013
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