Manifest der Hirnforscher – Tagungsdokumentation

Vor genau zehn Jahren machten bekannte Hirnforscher in einem Manifest mit Zukunftsprognosen hellhörig: Die Rede war vom Segen neuartiger Psychopharmaka bis hin zu „beträchtlichen Erschütterungen“ unseres Menschenbildes. Was davon ist eingetroffen und wie sehen die Zukunftsperspektiven der Hirnforschung aus?
Anfang dieses Jahres zog unter der Federführung von Felix Tretter und Boris Kotchoubey ein 15-köpfiges Team von Neurowissenschaftlern im sog. „Memorandum ‚reflexive‘ Neurowissenschaft“ eine ernüchternde Bilanz (s. u. Zusammenfassung). Die Revolution des Menschenbildes sei ausgeblieben, da die Reduktion des Geistigen, Psychischen, ja des Menschen insgesamt auf das Gehirn von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei. So fordert das Team für eine künftige Neurowissenschaft echte Interdisziplinarität unter Einbindung der Philosophie. Felix Tretter und Philosoph Godehard Brüntrup konkretisierten diese Zukunftsvision ausgehend von der Bilanz des Manifestes.
[spoiler title=’Memorandum reflexive Neurowissenschaft – Zusammenfassung‘ style=’default‘ collapse_link=’false‘]Unter der Federführung von Felix Tretter und Boris Kotchoubey bilanziert ein 15-köpfiges Team von Neurowissenschaftlern in einem ausführlichen Artikel die Voraussagen und Ansprüche des vor 10 Jahren herausgegebenen „Manifest der Hirnforscher“. Da eine Annäherung an die gesetzten Ziele nicht einmal in Sicht sei, fällt die Bilanz der Wissenschaftler eher ernüchternd aus. Die Revolution des Menschenbildes sei ausgeblieben, da die Reduktion des Geistigen, Psychischen, ja des Menschen insgesamt auf das Gehirn von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Den Grund für das Zurückbleiben hinter den Erwartungen sehen die Autoren in Unzulänglichkeiten im Bereich der Theorie und Methodologie der Neurowissenschaften, in ihrem überschätzten Erklärungspotenzial und in den unterstellten wissenschaftstheoretischen und naturalistischen Vorannahmen. So bedeute empirischer Datenzuwachs noch lange kein besseres Verständnis, und die zirkulären Kausalitäten des Gehirn, erst recht aber das Gehirn-Psyche-Geist Problem werde unterkomplex angegangen. Lösung könne hier künftig nur eine systemische und interdisziplinäre Methodologie, die vor allem die Philosophie einzubeziehen und zu einer nichtreduktiven, nachdenklichen (reflexiven) Neurowissenschaft zu führen habe.[/spoiler]

Ausschnitte: Tretter und Brüntrup zum Manifest der Hirnforscher

Erschütterung des Menschenbildes? Zehn Jahre Manifest der Hirnforscher

Montag, 13. Oktober 2014, Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim
aus der Reihe „Nachgefragt – Abendgespräche zu Gesellschaft, Religion und Politik“
Zur Prognose „Erschütterung unseres Menschenbildes“ warf Godehard Brüntrup die grundsätzliche Frage auf, ob ein Menschen- oder Weltbild eine empirische Theorie darstellt, die durch eine andere empirische Theorie erschüttert werden könne. Dies verkenne, dass ein Menschen- oder Weltbild Elemente einer kreativen Deutung enthält, die über empirisch Nachweisbares hinausgeht und deshalb nicht unmittelbar aus der Empirie heraus verifizierbar oder falsifizierbar ist.
In gleicher Richtung hinterfragte auch Felix Tretter das Menschenbild mancher Neurowissenschaftler. Es sei zuzugestehen, dass mentale Phänomene auf neuronalen Phänomenen beruhen. Aber treffe dies auf wirklich ‚alle‘ mentalen Phänomene zu? Und was heiße ‚beruhen‘? Ist damit eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung gemeint? Wenn Verschaltungen ‚uns‘ festlegen, wie dies Rolf Singer annehme, wer sind dann ‚wir‘? Sind wir selbst diese ‚Verschaltungen‘? Es lege sich eine Fülle von Fragen nahe, die auf sprachliche, logische und kategoriale Schwachpunkte hindeuteten.
Am Beispiel des vielzitierten Libet-Experiments (siehe Textkasten) spürte Brüntrup einem solchen Schwachpunkt nach: Misst das Libet-Experiment überhaupt ‚Freiheit‘? An einleuchtenden Beispielen machte der Philosoph deutlich, dass das Bewusstsein – wenn erst einmal eine freie Entscheidung getroffen wurde – dies an neuronale Subprozesse delegieren kann, die dann quasi automatisch Handlungen hervorrufen. Genau diese automatisch ablaufenden Handlungen waren Gegenstand des Libet-Experiments, nicht etwa die Freiheit, die in der mit Gründen getroffenen Anfangsentscheidung lag.
[spoiler title=’Das Libet-Experiment‘ style=’default‘ collapse_link=’false‘]Als Libet-Experiment ist eine Versuchsreihe des Physiologen Benjamin Libet bekannt geworden, die ein auf den ersten Blick bemerkenswertes Ergebnis zeigte: Der Zeitpunkt, an dem die Entscheidung zu einer Handbewegung bewusst wurde, lag deutlich später als die einleitende Nervenaktivität des Gehirns. Gerhard Roth folgerte daraus: „Dieser Willensakt tritt in der Tat auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat“; damit aber, so die Schlussfolgerung, sei Freiheit eine Illusion.[/spoiler]

Die Referenten des Abends

Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter

Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter


Felix Tretter ist Professor am Department für Psychologie der LMU München. Er schloss das Psychologie-Studium mit einer Doktorarbeit in der Hirnforschung ab, war dann einige Jahre in der Hirnforschung am MPI für Psychiatrie tätig. Tretter verantwortete den Schwerpunkt Suchterkrankungen in einem psychiatrischen Großklinikum und ist im Vorstand der Bayerischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen. Tretter nutzt die Systemforschung, um psychische Erkrankungen besser zu verstehen. Grundlegend geht es ihm um die Entwicklung fachübergreifender Denkansätze.
Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ

Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ


Godehard Brüntrup ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Philosophie München mit den Schwerpunkten Metaphysik, Philosophie des Geistes und Sprachphilosophie. Im Kontext eines internationalen Geist-Gehirn-Projektes verfasste Brüntrup eine Doktorarbeit zur mentalen Verursachung. Als Inhaber des Erich-Lejeune-Stiftungslehrstuhls für Philosophie und Motivation (seit 2012) beschäftigt sich Brüntrup insbesondere mit Fragen der philosophischen Psychologie, der Metaphysik mentaler Verursachung, der Theorie des freien Willens sowie der Handlungstheorie.

Die Beiträge im Einzelnen

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