„… so kann es dennoch niemals eine wahre Unstimmigkeit zwischen Glauben und Vernunft geben …“
Dogmatische Konstitution „Dei Filius“ über den kath. Glauben (1870)
(es gilt der Originaltext aus: H. Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, verb., erw. ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hg. v. Peter Hünermann, 37. Aufl., Freiburg 1991)
3015
Auch dies hielt und hält das fortwährende Einverständnis der katholischen Kirche fest, daß es eine zweifache Ordnung der Erkenntnis gibt, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden ist: und zwar im Prinzip, weil wir in der einen <Ordnung> mit der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen; im Gegenstand aber, weil uns außer dem, wozu die natürliche Vernunft gelangen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten [Kan. 1].
Deshalb sagt der Apostel, der bezeugt, daß Gott von den Völkern „durch das, was gemacht ist“ [Röm 1,20], erkannt worden sei, indem er dennoch über die Gnade und Wahrheit, die durch Jesus Christus geworden ist [vgl. Joh 1,17], handelt: „Wir reden im Geheimnis von Gottes Weisheit, die verborgen ist, die Gott vor den Zeiten zu unserer Herrlichkeit vorherbestimmte, die niemand von den Fürsten dieser Welt erkannt hat. Uns aber hat <sie> Gott durch seinen Geist geoffenbart: Der Geist erforscht nämlich alles, auch die Tiefen Gottes“ [1 Kor 2,7f 10]. Und der Einziggeborene selbst preist den Vater, weil er dies vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Kleinen geoffenbart hat [vgl. Mt 11,25].
3016
Zwar erlangt die vom Glauben erleuchtete Vernunft, wenn sie fleißig, fromm und nüchtern forscht, sowohl aufgrund der Analogie mit dem, was sie auf natürliche Weise erkennt, als auch aufgrund des Zusammenhanges der Geheimnisse selbst untereinander und mit dem letzten Zweck des Menschen mit Gottes Hilfe eine gewisse Erkenntnis der Geheimnisse, und zwar eine sehr fruchtbare; niemals wird sie jedoch befähigt, sie genauso zu durchschauen wie die Wahrheiten, die ihren eigentlichen <Erkenntnis>gegenstand ausmachen. Denn die göttlichen Geheimnisse übersteigen ihrer eigenen Natur nach so den geschaffenen Verstand, daß sie, auch wenn sie durch die Offenbarung mitgeteilt und im Glauben angenommen wurden, dennoch mit dem Schleier des Glaubens selbst bedeckt und gleichsam von einem gewissen Dunkel umhüllt bleiben, solange wir in diesem sterblichen Leben „ferne vom Herrn pilgern: im Glauben nämlich wandeln wir und nicht im Schauen“ [2 Kor 5,6f].
3017
Aber auch wenn der Glaube über der Vernunft steht, so kann es dennoch niemals eine wahre Unstimmigkeit zwischen Glauben und Vernunft geben [vgl. *2776 2811]: denn derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, hat in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch <kann> jemals Wahres Wahrem widersprechen. Der unbegründete Anschein eines solchen Widerspruchs aber entsteht vor allem daraus, daß entweder die Lehrsätze des Glaubens nicht im Sinne der Kirche verstanden und erläutert wurden oder Hirngespinste für Aussagen der Vernunft gehalten werden. „Wir definieren“ also, „daß jede der Wahrheit des erleuchteten Glaubens entgegengesetzte Behauptung völlig falsch ist“ [5. Konzil im Lateran *1441].
3018
Weiter hat die Kirche, die zusammen mit dem apostolischen Amt der Lehre den Auftrag empfangen hat, die Hinterlassenschaft des Glaubens zu hüten, von Gott auch das Recht und die Pflicht, „Erkenntnis“, die fälschlich diesen Namen trägt [vgl. 1 Tim 6,20], zu ächten, damit keiner durch Philosophie und eitlen Trug getäuscht werde [vgl. Kol 2,8, Kan. 2]
Deswegen ist nicht nur allen gläubigen Christen verboten, solche Meinungen, von denen man erkennt, daß sie der Lehre des Glaubens entgegengesetzt sind – vor allem, wenn sie von der Kirche verworfen wurden -, als rechtmäßige Folgerungen der Wissenschaft zu verteidigen, sondern sie sind vielmehr durchaus verpflichtet, sie für Irrtümer zu halten, die den trügerischen Schein von Wahrheit vor sich hertragen.
3019
Auch können Glaube und Vernunft nicht nur niemals untereinander unstimmig sein, sondern sie leisten sich auch wechselseitig Hilfe [vgl. *2776 2811]; denn die rechte Vernunft beweist die Grundlagen des Glaubens und bildet, von seinem Licht erleuchtet, die Wissenschaft von den göttlichen Dingen aus; der Glaube aber befreit und schützt die Vernunft vor Irrtümern und stattet sie mit vielfacher Erkenntnis aus.
Deswegen ist es weit gefehlt, daß die Kirche der Pflege der menschlichen Künste und Wissenschaften Widerstand leiste; vielmehr unterstützt und fördert sie diese auf vielfache Weise. Denn weder verkennt noch verachtet sie die Vorteile, die aus ihnen für das Leben der Menschen entspringen; vielmehr räumt sie ein: wie sie von Gott, dem Herrn der Wissenschaften [vgl. 1 Sam 2,3], ausgegangen sind, so führen sie, wenn sie in rechter Weise ausgeübt werden, mit Hilfe seiner Gnade zu Gott hin.
Auch verbietet sie keineswegs, daß diese Wissenschaften in ihrem jeweiligen Bereich ihre eigenen Prinzipien und ihre eigene Methode anwenden; diese gerechtfertigte Freiheit anerkennend, achtet sie aber eifrig darauf, daß sie nicht der göttlichen Lehre widerstreiten und so Irrtümer in sich aufnehmen oder in Überschreitung ihrer eigenen Grenzen das, was des Glaubens ist, in Beschlag nehmen und durcheinanderbringen.
3020
Die Lehre des Glaubens, die Gott geoffenbart hat, wurde nämlich nicht wie eine philosophische Erfindung den menschlichen Geistern zur Vervollkommnung vorgelegt, sondern als göttliche Hinterlassenschaft der Braut Christi anvertraut, damit sie treu gehütet und unfehlbar erklärt werde. Daher ist auch immerdar derjenige Sinn der heiligen Glaubenssätze beizubehalten, den die heilige Mutter Kirche einmal erklärt hat, und niemals von diesem Sinn unter dem Anschein und Namen einer höheren Einsicht abzuweichen [Kan. 3]. „So wachse denn und gedeihe in reichem und starkem Maße im Laufe der Zeiten und Jahrhunderte Erkenntnis, Wissenschaft und Weisheit sowohl in einem jeden als auch in allen, sowohl im einzelnen Menschen als auch in der ganzen Kirche: aber lediglich in der ihnen zukommenden Weise, nämlich in derselben Lehre, demselben Sinn und derselben Auffassung“[1].
[1] Vinzenz von Lérins, Commonitorium primum 23, n. 3.
Recent Comments